Schaffhauser Nachrichten: «Augen nicht vor Missbrauch verschliessen»

Interview: Michael Brunner und Thomas Münzel

Herr Germann, künftig soll im Grundsatz nur noch zum Asylverfahren zugelassen werden, wer Identitätspapiere vorlegt. Da fallen doch echte Flüchtlinge durch die Maschen, da gerade sie oft keine Papiere haben?
Hannes Germann: Nein, überhaupt nicht. Allen echten Flüchtlingen wird weiter geholfen. Aber man verlangt von ihnen eine angemessene Bereitschaft zur Kooperation. Die Dauer eines regulären Asylverfahrens wird heute massgeblich dadurch beeinflusst, ob Ausweispapiere vorhanden sind oder nicht. Werden diese absichtlich vorenthalten und jegliche Auskünfte über die Herkunft verweigert, kann sich das Verfahren über Jahre hinziehen. Das ist kein würdiges Asylverfahren, administrativ unsinnig und teuer. Rasche rechtskräftige Entscheide dienen allen, vor allem den echten Flüchtlingen.

Frau Graf-Litscher, also keine Gefahr für echte Flüchtlinge?
Edith Graf-Litscher: Doch. Die Regelung ist klar: Wer nicht innerhalb von 48 Stunden eine Identitätskarte oder einen Reisepass vorweisen kann, der hat kein Anrecht mehr auf die Prüfung seines Asylgesuchs. Diese Praxis ist meiner Meinung nach ein Verstoss gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen die Menschenrechte.

Aber es besteht doch die Möglichkeit, dass Personen plausibel erklären können, warum sie keine Reisepapiere bei sich haben?
Graf-Litscher: Diese Möglichkeit besteht tatsächlich. Doch die Frist von 48 Stunden ist dafür sehr kurz. Und was genau heisst «plausibel»? Da kommt menschliches Ermessen ins Spiel. Die Gefahr ist, dass echten Flüchtlingen der Schutz vorenthalten wird.
Germann: Aber ein echter Flüchtling braucht doch nicht 48 Stunden, um sich zu erinnern, woher er kommt, und plausibel darzulegen, warum er keine Papiere bei sich hat. Trifft Letzteres zu, helfen die Behörden mit der gebotenen Sorgfalt und Nachsicht bei der Papierbeschaffung. Bloss weil er keine Papiere auf sich hat, wird aber niemand aus der Schweiz in ein Land ausgewiesen, in dem er an Leib und Leben bedroht ist. Man wüsste ja auch gar nicht, wohin man ihn ausschaffen müsste.
Graf-Litscher: Da haben wir genau die Problematik. Das neue Gesetz erlaubt, dass schon vor dem definitiven Asylentscheid Rückfragen im Herkunftsland gemacht werden können. Das kann Angehörige stark gefährden. Ich verstehe auch nicht, warum künftig andere Dokumente wie Fahrausweis oder Geburtsurkunde für das Schweizer Asylverfahren nicht mehr genügen sollen. In der Regel sind es ja gerade verfolgte Personen, die keinen Pass haben.

Herr Germann, warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass nur noch Identitätskarte und Pass gelten?
Germann: In der Schweiz weiss kaum jemand, wie ein Führerausweis oder eine Geburtsurkunde aus irgendeiner Provinz eines beliebigen Landes aussieht. Derartige Dokumente lassen sich mit Geld fast beliebig beschaffen. Ein Pass ist immerhin ein amtliches staatliches Dokument, dessen Echtheit sich besser nachprüfen lässt. Doch das Hauptproblem ist ein anderes: Nehmen wir jene Asylbewerber, die per Flugzeug einreisen. Es gibt keinen Flughafen auf der Welt, wo man ohne Pass auf einen Interkontinentalflug gelangt. Also muss, wer in Zürich-Kloten oder Genf ankommt, einen Pass oder eine ID auf sich haben, sonst ist etwas faul. Man kann den Staat doch nicht zwingen, sich blind zu stellen. So wird die Glaubwürdigkeit des Asylverfahrens, des Rechtsstaates untergraben. Das ist sowohl für uns Schweizer wie auch für rechtmässig anwesende Ausländer stossend.

Frau Graf-Litscher, sehen Sie diese Missbräuche, von denen Herr Germann spricht, nicht?
Graf-Litscher: Ich denke, wir sind uns alle einig: Gegen Personen, egal welcher Nationalität, die sich nicht an die Schweizer Gesetze halten, müssen Massnahmen ergriffen werden. Zugleich ist die Schweiz aber ein Rechtsstaat, der Menschenrechte und Menschenwürde schützen muss. Ich möchte nicht in einem Land leben, wo man grundsätzlich davon ausgeht, dass uns alle Asylbewerber hintergehen und betrügen wollen. Sonst müssten wir auch unser Versicherungssystem umgestalten. Auch dort gibt es einzelne Personen, die Missbrauch betreiben. Deshalb kann man doch nicht den Versicherungsschutz für alle Menschen abschaffen.

Herr Germann, sind es nur Einzelfälle?
Germann: Leider nicht. Ich habe ohnehin Mühe, wenn man in diesem Zusammenhang von Menschenrechten spricht. Was hat das damit zu tun, wenn Asylbewerber, die mit dem Flugzeug zu uns kommen, ihren Reisepass vorzeigen oder zumindest sagen müssen, woher sie kommen und warum sie keine Papiere haben?

Aber die meisten Asylbewerber kommen nicht mit dem Flugzeug.
Germann: Das mag sein, aber die Systematik ist im Prinzip dieselbe: Wer nicht verfolgt wird und unser Asyl- und Sozialsystem missbrauchen will, fährt heute leider am besten, wenn er seine Identität nicht preisgibt, rekurriert, keinesfalls kooperiert und nach Belieben lügt, wie der Fall Solongo zeigt. Was hat so etwas mit Menschenrechten zu tun? Kein Rechtsstaat lässt sich wissentlich hintergehen. Wer seine Versicherung betrügt, verliert damit doch auch den Versicherungsschutz.

Frau Graf, Ihre Seite warb am 1. August mit einem Open Air mit dem Titel «Stopp Ausgrenzung» für die Ablehnung der Asylgesetzrevision. Heisst das, die linke Alternative zur Asylrechtsverschärfung ist ein Szenario, bei dem die Schweiz alle, die kommen, aufnimmt?
Graf-Litscher: Nein. Aber die Probleme im Asylbereich müssten anders angegangen werden. Sie müssten gelöst, statt nur auf die Kantone und Gemeinden abgewälzt zu werden. Konkret müssten die Bundesbehörden nochmals einen Anlauf nehmen, um Rücknahmeabkommen mit den Herkunftsstaaten zu schliessen. So wie das Bundesrätin Ruth Metzler versucht hat. Dann geht es mir wie gesagt darum, dass nicht grundsätzlich von Missbrauch ausgegangen wird. Diese falsche Grundhaltung prägt nicht nur das neue Asylgesetz, sondern auch das neue Ausländerrecht. Es sind nicht alle binationalen Ehen Scheinehen.
Germann: Wir pflegen keine Misstrauenshaltung, wie uns das Frau Graf-Litscher unterstellt. Aber wir dürfen die Augen nicht davor verschliessen, dass es nebst vielen Wirtschaftsflüchtlingen und Kriminaltouristen auch Scheinehen gibt. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Auf dem Standesamt sitzen eine 60-jährige Frau und ein 22-jähriger Mann, die kein Wort miteinander reden können. Der Standesbeamte merkt, dass da etwas faul ist – und trotzdem muss er die Ehe schliessen. Das darf doch nicht wahr sein.
Graf-Litscher: Aber es ist nicht richtig, wenn mit dem neuen Gesetz bei Verdacht auf Scheinehe ohne richterliche Befugnis eine Hausdurchsuchung durchgeführt werden kann. Stehen wir Schweizer wegen eines anderen Vergehens unter Verdacht, kann man das auch nicht. Damit schafft man Menschen zweiter Klasse.

Aber das Beispiel auf dem Standesamt?
Graf-Litscher: Nochmals. Ich komme aus der Krankenversicherungsbranche. Ich kenne auch Leute, die betrügen. Aus diesen Einzelfällen darf man jedoch keine Rückschlüsse auf die Allgemeinheit ziehen.

Die Regelungen zur Scheinehe sind ja bei weitem nicht die einzigen Änderungen, welche das neue Ausländerrecht bringt. Gefördert wird etwa die Integration. Das müsste Ihnen doch gefallen, Frau Graf-Litscher?
Graf-Litscher:Das ist tatsächlich in meinem Sinn. Aber die Nachteile des neuen Gesetzes überwiegen. So dürfen etwa im Rahmen des Familiennachzuges Kinder nur noch bis zum Alter von zwölf Jahren in die Schweiz mitgenommen werden.
Germann: Kinder über zwölf Jahre dürfen schon in die Schweiz geholt werden, aber nur innert einem statt innert fünf Jahren. Diese Neuregelung ist aus Integrationsgründen vernünftig. Doch hier zeigt sich die ganze Doppelmoral im Asylwesen: Einerseits sind die Leute hier, weil sie im Heimatland politisch verfolgt werden, andererseits lassen sie ihre Kinder – wegen der hohen Schweizer Kinderzulagen? – just an diesem gefährlichen Ort zurück, bis sie 17 oder 18 sind. Diese Personen können kein Deutsch, haben meist keinen Beruf erlernt und sind schlecht ausgebildet. Entschuldigung, aber der zu späte Nachzug schafft doch nur noch mehr Probleme.
Graf-Litscher: Tatsache ist, dass ein 13-jähriges Kind im Gegensatz zu einem 12-jährigen keine Niederlassungsbewilligung erhält.

Zum Schluss nochmals zu Ihren Hauptargumenten: Frau Graf-Litscher, was passiert, wenn die Stimmbürger gegen Ihren Willen am 24. September zweimal Ja sagen?
Graf-Litscher: Dann sind Grundrechte in Gefahr, und die Schweiz macht sich international unglaubwürdig. Wir können von anderen Ländern nicht die Einhaltung der Menschenrechte fordern und selbst nicht nach diesen Grundsätzen handeln. Die Vorlage ist unmenschlich, ineffizient und verlagert die Probleme nur, statt sie zu lösen.

Herr Germann, was passiert, wenn es ein doppeltes Nein gibt?
Germann: Dann müssen wir weiterhin zuschauen, wie Missbräuche passieren, obwohl sie erkannt sind.