Schaffhauser Nachrichten: Fast einig beim Ziel, aber uneins beim Weg

Milchkuh-Debatte auf der SN-Redaktion: Ständerat Hannes Germann (SVP) und Nationalrätin Martina Munz (SP).Bild Selwyn Hoffmann
Milchkuh-Debatte auf der SN-Redaktion: Ständerat Hannes Germann (SVP) und Nationalrätin Martina Munz (SP).Bild Selwyn Hoffmann

Unbestritten ist: Unsere Mobilitätsbedürfnisse belasten das Strassensystem bis an seine Grenzen. Die Zahl der Staustunden wächst, besonders rund um die grossen Agglomerationen hat sich die Situation verschärft. Die Milchkuh-Initiative, über die wir am 5. Juni abstimmen, verspricht Abhilfe, aber ist sie tatsächlich die richtige Lösung?

Von Sandro Stoll

Milchkuh-Debatte auf der SN-Redaktion: Ständerat Hannes Germann (SVP) und Nationalrätin Martina Munz (SP).Bild Selwyn Hoffmann
Milchkuh-Debatte auf der SN-Redaktion: Ständerat Hannes Germann (SVP) und Nationalrätin Martina Munz (SP).Bild Selwyn Hoffmann

Herr Germann, bitte nennen Sie mir zwei Argumente, weshalb ich Ja zur Milchkuh-Initiative sagen sollte.

Hannes Germann: Erstens: Ein Ja zur Milchkuh-Initiative sorgt dafür, dass wir genügend Mittel zur Verfügung haben, um den Unterhalt und die Erneuerung unserer wichtigsten Strassen langfristig zu sichern. Zweitens: Die Akzeptanz zweckgebundener Abgaben steigt, wenn man sie auch tatsächlich zweckgebunden verwendet. Das heisst: Was die Strassenbenutzer an Abgaben, Steuern und Gebühren bezahlen müssen, soll künftig zur Hälfte statt wie heute nur zu einem Drittel der Strasse zukommen. Ziel ist also ein breit abgestütztes und ausreichend finanziertes System, das die Spezialfinanzierung Strassenverkehr (SFSV) garantiert, so wie es der Bahninfrastrukturfonds BIF für die Schiene tut.

Frau Munz, zwei Gründe bitte, weshalb ich ein Nein in die Urne legen sollte.

Martina Munz: Die Milchkuh-Initiative ist erstens ein massiver Angriff auf unsere Bundeskasse, der grosse Schäden hinterlassen würde. Zweitens ist die Initiative ein Angriff auf unser hervorragend funktionierendes Verkehrssystem, weil es Schiene und Strasse unnötig gegeneinander ausspielt. Der Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehr-Fonds NAF, der derzeit im Parlament beraten wird und der die Strassenfinanzierung analog zum Eisenbahnfonds auf tragfähige Beine stellen wird, wird durch die Milchkuh-Initiative torpediert. Es stimmt also ­gerade nicht, was Hannes Germann sagt: Wer die Strassenfinanzierung – und nicht nur den Autobahnbau – langfristig sichern will, muss die Initiative ablehnen.

Germann: Das ist jetzt wohl aber ein schlechter Scherz, dass die Milchkuh- Initiative den NAF verhindern soll? Tatsache ist: Das Parlament hat es damals bei der Diskussion der Milchkuh-Initiative verpasst, den NAF mit inte­griertem Netzbeschluss zu etablieren und ein ausreichend dotiertes Gefäss für die Strasseninfrastruktur zu bilden. Das wäre ein sinnvolles Pendant gewesen. Was wir brauchen, ist ein sinnvolles Nebeneinander von privatem und öffentlichem Verkehr, und dafür schafft die Initiative jetzt die finanzielle Grundlage. Der NAF ist derzeit in der parlamentarischen Debatte, aber wie die Diskussion in der Verkehrskommission des Nationalrates gezeigt hat, ist es überhaupt nicht sicher, ob und wie er tatsächlich kommt.

Steht der NAF tatsächlich auf der Kippe, Frau Munz?

Munz: Richtig ist, der NAF braucht eine Finanzierung. Das Parlament ist den Befürwortern aber schon sehr weit entgegengekommen, es steckt eine halbe Milchkuh im NAF. Einer der Vorteile dieses Fonds ist, dass er im Gegensatz zur Milchkuh-Initiative auch den Agglomerationsverkehr im Blick hat. Die grössten Strassenprojekte sind auf dem Gebiet der Städte angesiedelt, und auf diesem Auge ist die Initiative blind. Tatsache ist: Die Strassenkasse ist gut gefüllt, es warten zwei Milliarden Franken auf baureife Projekte. Zudem sagt der Bundesrat: Berücksichtigt man auch die externen Kosten, dann bezahlt die Strasse ihre Kosten nicht.

Stimmt diese Rechnung, Herr Germann?

Germann: Den Autofahrern zieht man via Steuern, Abgaben und Gebühren jedes Jahr über neun Milliarden Franken aus der Tasche. Nur ein Drittel davon wird indes für die Strasse verwendet. Der Rest fliesst in die allgemeine Bundeskasse und wird für Quersubventionierungen verwendet. Von den Strassengeldern profieren auch der ÖV und der Langsamverkehr. Zwei Drittel der ÖV-Leistung werden nicht auf der SBB-Schiene, sondern durch Busse, Trams und Postautos erbracht, also auf der Strasse. Und was ganz wichtig ist, aber gerne vergessen geht: Die volkswirtschaftlichen Schäden, die wir mit den vielen Staus schweizweit verursachen, gehen in die Milliarden. Wir dürfen nicht tatenlos zuschauen, wie sich die Situation noch weiter verschlimmert.

Munz: Die Rechnung mit den neun Milliarden Franken, die unter anderem auch die Mehrwertsteuer miteinbezieht, ist absurd. Nimmt man die tatsächlich anfallenden Gebühren und Abgaben, die den Autofahrern belastet werden, dann präsentiert sich die Rechnung so: Drei Viertel aller Strassenabgaben fliessen bereits jetzt in die Strasse. Die externen Kosten sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt: Im Gegensatz zum Heizöl wird auf Benzin und Diesel übrigens auch keine CO2-Abgabe erhoben.

Germann: Ich betone: Der Selbstfinanzierungsgrad der Strasse ist ungleich höher als derjenige des öffentlichen Verkehrs. Das können auch Sie nicht bestreiten. Zudem: Die genaue Berechnung sämtlicher Klimakosten ist wohl nicht möglich. Die vom Bundesamt für Statistik (BFS) für 2014 allein auf Nationalstrassen erhobenen 21 541 Staustunden – doppelt so viele wie 2008 – schaden der Umwelt jedenfalls mehr, als wenn der Verkehr gleichmässig fliessen könnte.

Munz: Tatsache ist: Der private Verkehr zahlt seine Klimakosten nicht. Und, wenn wir schon bei den Zahlen sind: Autofahren ist in den letzten Jahren massiv billiger geworden. Die Benutzung des ÖV dagegen wurde in den letzten 10 Jahren um 30 Prozent teurer. Da tut sich eine Schere auf. Unser Ziel ist ein Miteinander …

Germann: … ah, ja …

Munz: …ein Miteinander von Strasse und Schiene. Möglichst viele Pendler sollen die Bahn benutzen, damit die Strassen für die frei bleiben, die aufs Auto angewiesen sind. Das ist eine sinnvolle Aufteilung, und genau die wird jetzt von der Milchkuh-Initiative infrage gestellt.

Die NAF-Beratungen im Ständerat sehen eine Benzinpreiserhöhung von 4 Rappen pro Liter vor. Da wird eine Fahrt von Schaffhausen nach Zürich und zurück gerade mal um 20 bis 30 Rappen teurer. Ist das tatsächlich untragbar, Herr Germann?

Germann: Ich finde es unklug. Wir hatten eine Volksabstimmung über die Erhöhung der Autobahnvignette von 40 auf 100 Franken, die vom Volk klar abgelehnt wurde …

Munz: … die habe ich ebenfalls bekämpft, wenn auch aus anderen Gründen.

Germann: Ich stand damals hinter der geplanten Erhöhung, weil ich der Überzeugung war, die Beseitigung der wichtigsten Strassenengpässe müsse sichergestellt werden. Über die Vignette wäre das möglich gewesen, weil diese Gelder tatsächlich in die Strassenfinanzierung fliessen. Aber das Volk hat dazu Nein gesagt. Jetzt müssen wir einen anderen Weg finden. Aber wir können nach dem klaren Volksnein nicht gleich mit der nächsten Erhöhung kommen. Dies umso weniger, als wir bereits heute mit jedem Liter Benzin inklusive Mehrwertsteuer zwischen 80 und 90 Rappen an Abgaben leisten. Dazu kommen noch die Vignette, die Automobilsteuer usw.

Reden wir übers Sparprogramm, das eine Annahme der Milchkuh-Initiative zur Folge hätte.

Munz: Der Bundesrat hat genau beziffert, wo wir die 1,5 Milliarden Franken sparen müssten: Bei der Bildung wären es beispielsweise 350 Millionen Franken, bei den Bauern 200 Millionen Franken. Auch die Kantone sehen diese Problematik, deshalb sind sie geschlossen gegen die Initiative. Würde die Initiative angenommen, würden die Regionen massiv geschwächt.

Germann: Da muss ich jetzt unterbrechen, das stimmt einfach nicht. Die Milchkuh sieht mindestens 150 zusätzliche Millionen Franken für die Strassen der Kantone vor.

Munz: Wieso sind die Kantone dann dagegen?

Germann: Weil die Finanzdirektoren logischerweise immer zuerst Angst haben, wenn Mittel im System einen anderen Weg nehmen. Festhalten müssen wir dies: Die Strassenverkehrsabgaben generieren für Kantone und Gemeinden viel zu wenig Geld. Die Milchkuh hat dafür eine Lösung, sie sieht zusätzliche Mittel von gegen 1,5 Milliarden Franken aus der Mineralölsteuer für die Spezialfinanzierung Strassenverkehr vor. Das sind Gelder, von denen Kantone und Gemeinden profitieren könnten. Denn sie kommen der Engpassbeseitigung, dem Aggloverkehr, also Schiene, Strasse und Langsamverkehr, sowie Hauptstrassen und dem kombinierten Verkehr, dem FinöV-Fonds, Umwelt- und Landschaftsschutz zugute. Das macht Sinn.

Munz: Es stimmt, die Milchkuh hat 150 Millionen Franken für die Kantone vorgesehen. Aber wegen des beim Bund durch die Milchkuh-Initiative ausgelösten Sparprogramms würden den Kantonen nach Einschätzung des Bundesrates gleichzeitig 200 Millionen Franken fehlen. Unter dem Strich hätten sie massiv weniger, darum wollen die Kantone die Milchkuh nicht. Ausserdem gefährdet die Initiative auch den öffentlichen Verkehr, wo über 200 Millionen Franken eingespart werden müssten. Und das wiederum würde die Verkehrssituation in den Agglomerationen massiv verschlechtern – ein Bus für Pendler fährt nun einmal nicht auf der Autobahn.

Schauen wir uns einmal die Verkehrssituation in Schaffhausen an …

Germann: Wir möchten die Strecke Schaffhausen–Thayngen ausbauen, weil es nun einfach einen gewissen Nord-Süd-Verkehr gibt und wir nicht alles auf einen Schlag auf die Schiene bringen …

Munz: Das ist jetzt gerade ein gutes Beispiel: Schaffhausen würde vom Netzbeschluss nämlich dadurch profitieren, dass wir die Strecke Schaffhausen–Bargen gegen die Strecke Schaffhausen–Thayngen mit dem Bund abtauschen könnten.

Germann: Einverstanden. Das Pro­blem ist bloss: Der Ausbau dieser Strecke ist wegen der Platzverhältnisse und der dort vorhandenen Moore möglicherweise richtig teuer. Für eine Tunnellösung braucht es Geld. Geld, das der Strassenfonds dank der Milchkuh-Initiative hätte. Selbst die Benzinsteuern müssten wir dafür nicht um vier Rappen anheben. Was einen weiteren Vorteil hätte: Wir haben schon jetzt einen Benzintourismus, der unsere Volkswirtschaft 300 Millionen Franken kostet. Jede weitere Benzinpreiserhöhung wäre eine Katastrophe, nur schon wegen des Tanktourismus.

Darf ich rekapitulieren: Sie sind eigentlich beide für den NAF.

Germann: Ja, da herrscht Einigkeit.

Aber Sie, Herr Germann, sagen, einen leistungsfähigen NAF gibt es nur mit der Milchkuh-Initiative, und Sie, Frau Munz, sagen, den NAF gibt es nur ohne die Initiative.

Germann: Natürlich gibt es einen NAF mit der Milchkuh. Ich betone nochmals: Die öffentliche Hand verliert mit der Initiative keinen einzigen Franken. Die Mittel werden bloss anders verteilt. Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb der Automobilist all die wichtigen Aufgaben, die wir vorhin aufgezählt haben, querfinanzieren soll. Das entzieht sich jeder Logik, dafür haben wir die normalen Steuern.

Munz: Der Unterschied ist der: Mit der Milchkuh-Initiative geht das Geld einseitig in den Strassenfonds, und der ist nur für Autobahnen und nicht für den allgemeinen Strassenbau. Der NAF dagegen ist eine Gesamtlösung für unsere Verkehrsprobleme. Da profitieren auch die Agglomerationen, nicht bloss die Autobahnbauer. Die Milchkuh-Initiative hat vielleicht als Druckmittel getaugt, damit der NAF finanziell besser ausstaffiert wird. Das ist jetzt vorgesehen.

Herr Germann, Frau Munz sagt, nach einer Annahme der Initiative wäre die Verkehrsfinanzierung viel einseitiger ausgerichtet. Stimmt das?

Germann: Jede Verfassungsänderung löst einen Gesetzgebungsprozess aus. Und auch bei der Umsetzung dieser Initiative hat der Gesetzgeber einen Spielraum. Ich bin sicher, dass das Parlament einen klugen Weg zur richtigen Ausstattung der verschiedenen Töpfe finden würde.

Munz: Das ist Wunschdenken und entspricht nicht dem Initiativtext. Für mich ist klar: Diese Initiative setzt unser gut funktionierendes Verkehrs- und Finanzierungssystem aufs Spiel.

Germann: Die Initiative schiesst vielleicht wie jede Initiative da oder dort ein wenig übers Ziel hinaus. Aber sie hat eine ganz grosse Stärke: Sie garantiert unsere Strassenfinanzierung. Ob der NAF kommt, ist noch keineswegs sicher. Wenn beides versenkt wird, dann haben wir den Schlamassel.

Eine letzte Frage: Wie kommen Sie jetzt nach Hause?

Munz: Der ÖV hat mich versetzt, mein Bus hatte Verspätung. Ich habe dann das Auto genommen.

Germann: Ich bin auch mit dem Auto da, die Busverbindung in den Unteren Reiat hat sich leider merklich verschlechtert.