Coop Zeitung: Sind die Behinderten die Verlierer?

Die neue Aufgabenteilung erfolge auf Kosten der sozial Schwächsten, sagen die Gegner. Sie belebe den Föderalismus, meinen die Befürworter. Ein Streitgespräch.

Hannes Germann: «Die Vorlage ist wie ein Befreiungsschlag in Bereichen, wo die Kosten aus dem Ruder laufen ...» Werner Marti: «Jetzt anerkennen Sie, dass man via NFA Kosten und Leistungen bei Behinderten abbauen will.» [Bild: Paolo Foschini]
Hannes Germann: «Die Vorlage ist wie ein Befreiungsschlag in Bereichen, wo die Kosten aus dem Ruder laufen …» Werner Marti: «Jetzt anerkennen Sie, dass man via NFA Kosten und Leistungen bei Behinderten abbauen will.» [Bild: Paolo Foschini]
von THOMAS COMPAGNO

COOPZEITUNG: Ihr Kanton, Schaffhausen, würde von der Neugestaltung des Finanzausgleichs NFA stark profitieren. Wozu braucht es die NFA?
HANNES GERMANN: Wir wollen Aufgaben entflechten, den Föderalismus revitalisieren und einen interkantonalen Ausgleich schaffen, weil die Unterschiede zwischen finanzstarken und finanzschwachen Kantonen zu gross sind. Die Kantone sollen ihre Aufgaben wieder vollumfänglich erfüllen können.

Dann sind Sie als Glarner auch dafür, Werner Marti?
WERNER MARTI: Glarus befindet sich etwa in der Mitte. Die Berechnungen basieren auf Zahlen von 97/98, die Einführung der NFA erfolgt frühestens 2006. Da wird sich noch viel ändern. Entscheidend ist nicht, welcher Kanton gewinnt oder zahlen muss. Es wird in allen Kantonen die gleichen Verlierer geben, nämlich die Behinderten und die Pflegebedürftigen, die bis jetzt dank Bundesrecht in der ganzen Schweiz die gleichen Ansprüche haben.

Den Finanzausgleich an sich können Sie unterstützen?
MARTI: Die NFA ist das dritte Paket in Serie Jahrgang 2004. Zwei, Avanti und Steuerpaket, haben wir bereits abgewiesen. Auch die NFA weist einzelne positive Punkte auf, gesamthaft ist die Vorlage aber inakzeptabel. Anstatt unser föderales System neu und zukunftsgerichtet zu ordnen, soll der Kantönligeist neu aufleben. Die Aufgabenverteilung erfolgt auf dem Rücken der sozial Schwachen.

Das sind erst mal Ängste. Die Kantone bekommen ja Geld für die neuen Aufgaben.
MARTI: Das sind keine Ängste. Staatspolitisch ist es unsinnig, wenn Kantone Aufgaben bekommen, die sie selber nicht lösen können und die sie darum über Konkordate regeln müssen. Es ist absehbar, dass soziale Aufgaben in den Kantonen unter Druck geraten werden.

Sind diese Befürchtungen nicht nachvollziehbar, angesichts der Sparwut in einigen Kantonen und dem nicht gerade sozialfreundlichen politischen Klima?
GERMANN: Wir müssen das gesamte Paket im Auge behalten. Die Verflechtungen, die sich über Jahrzehnte ergeben haben, sind nicht mehr zeitgemäss. Wir müssen klare Strukturen schaffen. Beispiel AHV/IV. Heute gibt es Zahlungsströme von den Gemeinden über die Kantone zum Bund, und der Bund verteilt das Geld über ein ebenso kompliziertes «Versickerungssystem» wieder nach unten. Das ist teuer, ineffizient und überholungsbedürftig. Die Kantone erhalten neu Aufgaben, für die der Bund heute 1,8 Milliarden Franken ausgibt. Sie werden aber von 2,2 Milliarden Franken AHV- und IV-Beiträgen entlastet. Die Kantone haben also netto 400 Millionen Franken mehr Mittel als bisher. Jeder Kanton weiss selber am besten, wie er seine Aufgaben optimal lösen kann. Das müsste Werner Marti als ehemaliger Regierungsrat wissen. MARTI: Ich weiss aber auch, dass die Kantone durch die finanziellen Ressourcen eingeschränkt sind. Den Entlastungen muss man die Aufgaben gegenüberstellen, die die Kantone übernehmen müssen, unter anderem Ergänzungsleistungen für Heim- und Pflegekosten. Es gibt keinen Bereich, in dem wir eine höhere Kostenexplosion zu erwarten haben als hier. Ich fürchte, dass die heutigen Leistungen nicht mehr erbracht werden können.

Besteht die Gefahr, dass in reicheren und ärmeren Kantonen verschiedene Sozialstandards entstehen?
GERMANN: Nein. Die Kantone bekommen ja die nötigen Mittel. Es fällt kein Pflegefall weniger an, wenn wir die NFA ablehnen. Die Gemeinden müssten die Kosten sonst durch steigende Beiträge an den Bund finanzieren. In der Summe bleiben die Kosten gleich.
MARTI: Im kantonalen Budget konkurrieren die Heim- und Pflegekosten mit anderen kantonalen Aufgaben, wie Bildung, Spitälern, Polizei etc. Die NFA führt zu einem Sozialabbau auf kaltem Weg.
GERMANN: Das ist Angstmacherei. Die IV hat einen Schuldenberg von rund zehn Milliarden Franken. Da stau-ne ich, wenn man allen Erns-tes erwartet, man bekäme in Zukunft noch mehr Mittel aus der IV. Das sind Illusionen.
MARTI: Wenn wir dieses Problem lösen wollen, müssen wir das demokratisch und fair im Rahmen der Revision der IV diskutieren, dort die Leistungen und deren Finanzierung festlegen. Eine Verlagerung auf die Kantone ist ineffizient, da anstelle einer heute einheitlichen Regelung mindestens 18 bis 20 kantonale Systeme treten werden.
GERMANN: Die NFA entflechtet das heutige Aufgabendickicht. Einige Aufgaben werden klar dem Bund, andere klar den Kantonen zugeordnet. Die Kantone übernehmen nur Aufgaben, die sie in eigener Kompetenz besser lösen können.

Die NFA will auch falsche Anreize ausmerzen. Das ist doch zu begrüssen.
GERMANN: Wenn die Kantone im Nationalstrassenbau mitbestimmen, aber der Bund bis zu 97 Prozent zahlt, fehlt jeglicher Anreiz zum Sparen. Das ist menschlich, aber der falsche Weg.
MARTI: Autobahnen sind klar Bundessache. Das soll aber auch für den Sozialbereich gelten. Dieser wird jedoch an die Kantone delegiert, und zwar mit einer klaren Absicht: Man hofft, so Kosten zu sparen.

Wohin gehört die Bildung?
MARTI: Auf die eidgenössische Ebene. Wichtige Bildungsfragen werden heute durch die Bildungsdirektion des Kantons Zürich entschieden. Die meisten Kantone müssen dann nachziehen. Die FDP fordert zu Recht ein einheitliches Bildungssystem. Nur sollte sie nicht gleichzeitig mit der Unterstützung der NFA das Gegenteil bewirken.
GERMANN: Die Welt ist eine andere geworden, und es gibt Bereiche, in denen der Bund eine gewisse Koordinationsaufgabe hat. Die Bildung gehört dazu.
MARTI: Die Ansicht, dass die Welt eine andere ist, teile ich. Aber das Rezept der Befürworter ist eines aus dem letzten Jahrhundert.
GERMANN: Aber gerade ihr Glarner lebt ja vom Föderalismus und würdet gestärkt.
MARTI:Das stimmt gar nicht. Für uns als kleinen Kanton bringt die NFA nicht mehr Freiheiten. Die Aufgaben können wir zum Teil gar nicht selber lösen und müssen uns Konkordaten anschliessen. Dort können wir bestenfalls noch ja oder nein sagen.

Ist die NFA mit dem Ressourcenausgleich auf dem richtigen Weg?
MARTI:Der Finanzausgleich im engeren Sinne hat zumindest etwas. Erstmals wird anerkannt, dass die riesigen Unterschiede zwischen den Kantonen auf lange Sicht nicht mehr zu tragen sind. Der vorliegende Lösungsansatz hat aber zwei Hauptmängel: Einerseits geht er zu wenig weit und andererseits wird der Finanzausgleich politisch steuerbar. Das Parlament entscheidet alle vier Jahre über die Höhe der Mittel, die eingeschossen werden. Im Zeichen von Spar-, Sanierungs- und sonstigen Entlastungsprogrammen des Bundes wird damit auch der Finanzausgleich, welcher bisher immer unangetastet war, unter Druck kommen.
GERMANN: Die NFA will das heutige Steuerungleichgewicht durch einen glaubwürdigen Ressourcenausgleich reduzieren und strukturschwä-cheren Kantonen eine echte Chance geben.
MARTI: Die grossen Unterschiede sind ein Ergebnis des Steuerwettbewerbs. Wer meint, dass die schwächeren Kantone durch die NFA bessere Voraussetzungen bekommen, täuscht sich gewaltig. Der Steuerwettbewerb wird erst richtig losgehen. Viel schlimmer: Mit der NFA wird der Steuerwettbewerb auf Verfassungs-ebene festgeschrieben.
GERMANN: Der heutige Finanzausgleich hat falsche Anreize und ist ungenügend. Der neue Ressourcenausgleich ist gerechter und effizienter.

Wird die NFA die Kantone markant entlasten?
GERMANN: Die grosse Mehrheit der Kantone gehört zu den Nettogewinnern, auch wenn das Ausmass für die meisten nicht weltbewegend ist. Die Vorlage ist so etwas wie ein Befreiungsschlag in Bereichen, wo die Kosten – vor allem wegen ineffizienter Strukturen – aus dem Ruder laufen …
MARTI:Jetzt anerkennen Sie, dass man via NFA Kosten und Leistungen bei Behinderten abbauen will.
GERMANN: … und jetzt sucht man einen anderen Weg, um hier eine Dämpfung zu erzielen. Ob es gelingt, wird sich weisen. Es hängt davon ab, wie clever die Kantone ihren Spielraum nutzen.
MARTI: Das Problem ist, dass neben dem Steuerwettbewerb auch ein Leistungswettbewerb entsteht, weil nicht alle Kantone die gleichen Leistungen anbieten. Das wird zu einem unwürdigen Sozialtourismus führen.
GERMANN: Die Kantone müssen den heutigen Standard für drei Jahre weiterführen. Der Besitzstand im Sozialbereich/ Behindertenbereich ist also bis mindestens 2011 gewahrt. Bis dann müssen die Kantone Konzepte vorlegen, die der Bundesrat genehmigen muss. Was ist bei einem Nein an der Urne?
GERMANN:Wir hätten weiter diese unsäglichen und teuren Verbundaufgaben ohne klare Verantwortlichkeiten. Die Kluft zwischen Arm und Reich würde noch unerträglicher.
MARTI: Wir verhindern einen Rückschritt, dem Kantönligeist wird eine Absage erteilt. Das gibt die Chance, die Zusammenarbeit der Kantone modern auszugestalten und die Aufgaben gezielt neu zu verteilen.