Sechs Wochen lang spuken Heidi, Helvetia und Winkelried durchs Bundeshaus – von mächtigen Projektoren heraufbeschworen aus den Tiefen der Schweizer Mythen- und Legenden-Welt.
Von Markus Häfliger
Das Bundeshaus wankt. Es schwabbelt. Es wechselt die Farbe. Es erstarrt im Eis. Es fällt in sich zusammen. Und es richtet sich wieder auf. Sechs Wochen lang verwandeln sich die protzigen Fassaden, die für die Ewigkeit gebaut scheinen, in eine flexible Leinwand, auf der alles möglich ist. Sieben riesige Projektoren erzählen mit je 22 000 ANSI-Lumen ein Schweizer Märchen, das eigens für diesen Anlass erfunden wurde.
Wer wäre geeigneter, eine Hommage an das Bernerischste aller Berner Gebäude einzuleiten, als der Über-Berner Mani Matter? «Einisch ir Nacht woni spät no bi gloffe, d Bundesterrasse z düruf gäge hei», singt der Liedermacher postum über den Bundesplatz. Sein Lied erzählt von einem Kerl, der das Bundeshaus sprengen will: «Furt mit däm Ghütt, i bi für d Anarchie.» Doch Mani Matter bringt ihn von seinem Vorhaben ab – mit einer patriotischen Rede, die die Vorzüge der Schweiz und ihrer Demokratie preist.
Das Bundeshaus-Schloss
Und weil das Bundeshaus also vorderhand stehen bleibt, kann darin nun das Märchen aufgeführt werden, das die Protagonisten des nationalen Mythenschatzes wild durcheinanderwirbelt. Die Prinzessin Helvetia soll Wilhelm Tell heiraten, will aber nicht, weil sie einen kleinen Uhrmacher liebt. Im obersten Turm ihres Bundeshaus-Schlosses heult sich die Prinzessin ihren Kummer aus dem Leib – so lange, bis ihre Tränen die 111-jährigen Sandsteinmauern in einem Meer ertränken.
Drei Monate lang haben 14 Grafiker in Frankreich die 28 500 Bilder der Show programmiert und abgestimmt auf jedes Fenstersims, jede Säule und jede Verzierung des Bundeshauses. Wenn sich das Bild auf dem Computerbildschirm auch nur um ein Pixel verschiebe, verschiebe es sich auf der Fassade um einen Zentimeter, sagt Brigitte Roux, Miteigentümerin der Firma Starlight Events im bernischen Kilchberg.
Brigitte Roux, eine Zürcherin, und Urs Gysin, ein Basler, haben die Licht-und-Ton-Show, für die es in der Schweiz nichts Vergleichbares gibt, nach Bern gebracht– dieses Jahr bereits zum dritten Mal. In den letzten zwei Jahren sahen Hunderttausende die kostenlose Vorführung. Schon zur Hauptprobe der dritten Ausgabe erschienen am Donnerstagabend erneut Hunderte Zuschauer auf dem Bundesplatz. Am Freitag geht die offizielle Premiere über die Bühne – pardon: über die Fassade.
Angefangen hat alles auf Madeira. Vor etwa acht Jahren erlebte Roux auf der Atlantik-Insel eine eindrückliche Weihnachts-Illumination – und beschloss, diese Technik in die Schweiz zu bringen. Es dauerte Jahre, bis sich ihr Traum realisieren liess. Erste Vorhaben, die Zürcher Bahnhofstrasse und das Basler Münster zu illuminieren, scheiterten an Geldmangel oder an lokalen Widerständen. Auch in Bern waren viele Hürden zu überwinden.
Tolerante Zensoren
Auch heute noch wird das Drehbuch jeweils von einem Delegierten des Parlaments auf politische Korrektheit überprüft – heuer von SVP-Ständerat Hannes Germann. Der Zensor zeigte sich grosszügig und bewilligte sogar Gottlieb Duttweilers Attacke auf das Bundeshaus amtlich – jene legendäre Episode von 1948, als der Migros-Gründer Steine in eine Bundeshaus-Scheibe warf. Das gefällt natürlich dem neuen Hauptsponsor, dem Migros-Kulturprozent, das knapp die Hälfte des Budgets von über 900 000 Franken beisteuert.
Nachdem Dutti und Heidi und Winkelried ihre Auftritte gehabt haben, steuert die Geschichte unaufhaltsam auf ein Happy End zu, wie es schweizerischer nicht sein könnte. Endlich könnte die Prinzessin ihren Uhrmacher heiraten – doch sie lehnt ab. Helvetia zieht es vor, ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren.
Gesteuert wird diese phantastische Geschichte im Zentrum der politischen Schweiz direkt aus der Europäischen Union – über eine Datenleitung aus der 700 Kilometer entfernten Bretagne. Als die französischen Computer nach 23 Minuten die Projektoren ausschalten und die Illusionsshow auf dem Bundesplatz endgültig beenden, steht das Bundeshaus wieder in alter Würde und Stabilität. Doch auf dem Heimweg hallt Matters Lied in einem nach. «Loufi am Bundeshuus sider verbii, muesi geng dänke s schteit nume uf Zit, es länge fürs sprenge es paar Seck Dynamit.»
«Rendez-vous Bundesplatz», 18. Oktober bis 1. Dezember 2013, zweimal täglich um 19 und 20.30 Uhr.