[Schaffhauser Nachrichten] «Ab heute gestalten wir unsere Zukunft neu»

Per 27. April öffnen Arztpraxen, Coiffeure und Baumärkte wieder, ab Mai dann auch die ­Schulen. Generell gilt jedoch weiterhin: Zu Hause bleiben. Für Gastronomie- und Kulturbranche, aber auch für die Schulen bleiben viele Fragen offen.

Anna Miller, Christoph Bernet, Doris Kleck

BERN. Schrittweise und vorsichtig zurückfinden in eine Art Normalität, soweit das eben möglich ist: Das war die Botschaft und ist das Kernanliegen des Bundesrates, wie er an der mit Spannung erwarteten Pressekonferenz vom Donnerstag mitteilte. Die Landesregierung stellte nun, genau einen Monat nach dem Einläuten der «ausserordentlichen Lage», eine Ausstiegsstrategie aus dem Corona-Lockdown vor. In drei Schritten.

Der Plan soll greifen, sofern die Fallzahlen weiter zurückgehen, die Sicherheit der Bevölkerung garantiert bleibt – und oberste Priorität: sofern die betroffenen Betriebe und Branchen «überzeugende Sicherheitskonzepte» vorlegen können. Sprich: Abstand und Hygiene garantieren.

Phase 1: Spital, Coiffeur, Gartencenter

Läuft alles nach Plan, können Spitäler per 27. April wieder sämtliche, auch nicht-dringliche Eingriffe vornehmen. Auch ambulante medizinische Praxen wie Zahnärzte oder Physiotherapeuten sowie Coiffeur-, Massage- und Kosmetikstudios dürfen ihren Betrieb wieder aufnehmen. Baumärkte, Gartencenter, Blumenläden und Gärtnereien können wieder öffnen.

Ab dem 27. April werden zudem die Sortimentsbeschränkungen in Lebensmittelläden aufgehoben. Wenn sich Güter des ­täglichen Bedarfs und weitere Güter auf der Verkaufsfläche der Lebensmittelläden befinden, dürfen sie verkauft werden. «Inakzeptabel» findet dies der Schweizerische Gewerbeverband: Den grossen Händlern würden alle Freiheiten gegeben, der KMU-Handel werde hingegen noch geschlossen gehalten.

Phase 2: Schulen und Läden

Am 11. Mai 2020 werden die obligatorischen Schulen und die Läden wieder geöffnet – wenn es die Lageentwicklung zulässt. Den Entscheid darüber will der Bundesrat am 29. April fällen.

Dagmar Rösler, die oberste Lehrerin der Schweiz, zeigt Verständnis für das Vorgehen des Bundesrats. «So haben die Schulen auch die nötige Zeit, sich auf die Wiedereröffnung vorzubereiten», sagt sie. Sie warnt jedoch vor falschen Hoffnungen: «Die Situation an den Schulen wird nicht so schnell wieder so sein wie vor der Schliessung.» Problematisch sei, dass noch viele Fragen offen sind. «Wir wissen nicht, unter welchen Bedingungen die Schulen wieder geöffnet werden. Und es wird eine riesige Herausforderung, den Schutz für Schüler und Lehrer zu gewährleisten.» So ist beispielsweise unklar, ob ab dem 11. Mai in Halbklassen, Kleingruppen oder ganz normal unterrichtet wird.

Silvia Steiner, Präsidentin der Konfe- renz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und Zürcher Regierungsrätin, begrüsst den Entscheid des Bundesrates. In den kommen Tagen gehe es nun darum, die Rahmenbedingungen zu klären. Es brauche jetzt ein gutes Schutzkonzept für die Schulen. Die EDK werde den Verbänden und Gemeinden Vorschläge unterbreiten und mit ihnen diskutieren, was pädagogisch sinnvoll und umsetzbar ist.

Auch die Frage des Schulabschlusses beschäftigt Eltern, Lehrer und Schüler seit Wochen. Der Bundesrat entschied nun: Für alle praktischen Lehrabschlussprüfungen wurde schweizweit eine durchführbare Variante beschlossen. Die schulischen bzw. schriftlichen Prüfungen fallen aus. Sie werden durch Erfahrungsnoten ersetzt. Wie genau die Maturitätsprüfungen geregelt werden, wird laut Bund spätestens Anfang Mai entschieden.

Diese Regelung betrifft rund 75000 Jugendliche, die diesen Sommer ihre Grundausbildung abschliessen werden. Trotz der Coronakrise erhalten sie so das anerkannte eidgenössische Fähigkeitszeugnis.

Phase 3: Hochschulen, Zoo, Museen

Ab dem 8. Juni 2020 sollen Mittel-, Berufs- und Hochschulen sowie Museen, Zoos und Bibliotheken wieder öffnen. Die Details zu dieser Etappe will der Bundesrat am 27. Mai beschliessen. Der Bundesrat betonte nochmals: Die Sicherheit der Bevölkerung hat oberste Priorität. Deshalb beziehen sich die Massnahmen und die Lockerungen auf Bereiche, die keine grösseren Menschenansammlungen voraussetzen.

An diesem Donnerstag wurde klar: Der Bundesrat bemüht sich nach Kräften, in alle Richtungen Signale der Hoffnung zu entsenden. So sagte Guy Parmelin: «Wir haben bewiesen, dass wir trotz dieser schwierigen Zeiten stark sind. Ab heute gestalten wir unsere Zukunft neu.» Aussicht auf Normalität ist nun die Strategie, weil in der Realität nach wie vor gilt: Viele Bereiche des öffentlichen Lebens bleiben eingeschränkt. Weiterhin gilt für den privaten Bereich: Menschenansammlungen ab fünf Personen sind verboten, der öffentliche Verkehr ist zu meiden, die Menschen sollen weiterhin zu Hause bleiben, es sei denn, sie müssen zur Arbeit oder Einkäufe tätigen. Auch sind Unternehmen angehalten, nach Möglichkeit Homeoffice anzubieten. Es sei nun in dieser Zeit wichtig, nichts zu überstürzen und mit der nötigen Vorsicht vorzugehen.

Vorsichtig lenken statt zurückrudern

Die Ansteckungskurve gehe derzeit zurück, das sei erfreulich, hiess es an der Pressekonferenz. Doch der Rückgang sei vor allem der Disziplin der Bevölkerung zu verdanken. Es müsse auf jeden Fall eine «Stop-and-go»-Politik vermieden werden, sagte Bundesrat Alain Berset. Heisst: Dass man zurückrudern und die Massnahmen wieder verschärfen muss, weil die Ansteckungskurve wieder steigt. Denn: Noch immer sind sehr wenige Informationen zum Covid-19-Virus bekannt, auch Menschen, die genesen sind, sind nicht per se immun, es gibt noch keinen Impfstoff und sehr spärliche Informationen über Krankheitsverläufe. Auch deshalb hat der Bundesrat nun ein nationales Forschungsprogramm auf die Beine gestellt.

In den kommenden Jahren sollen der Erforschung des Virus 20 Millionen Franken zur Verfügung gestellt werden. Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit bestätigte gestern immerhin: Kinder sind nach neusten Erkenntnissen nicht vom Virus betroffen und sind vergleichsweise auch schwache Verbreiter. Die vulnerablen Personen hingegen sind weiterhin gefährdet. Deshalb bleibt ein generelles Besuchsverbot in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen wohl noch einige Wochen Realität. Und auch Grossveranstaltungen wie Open Airs werden bei Lockerungsbemühungen erst sehr spät mit einbezogen, sagte der Bundesrat. Andere Länder hätten Grossveranstaltungen teils bereits bis Ende August untersagt, die Schweiz hat jedoch in diesem Punkt noch keine Entscheidung getroffen.

Auch in puncto Gastronomie blieb vieles unklar. Vorerst sind Bars, Restaurants und kulturelle Einrichtungen dem Status quo ausgeliefert – sie bleiben bis auf Weiteres geschlossen. Bundesrätin Simonetta Sommaruga sprach an, dass man auch hier mit Hilfe von Sicherheitsmassnahmen entsprechende Schritte in Richtung Öffnung gehen könne – doch das ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Thema.

Medien Thema für Parlamentssession

Sommaruga sprach auch die Medienförderung an. Neu soll jedem Haushalt in der Schweiz eine Reduktion für die Serafe-Gebühren gewährt werden. (siehe Artikel unten). Ob und wie die privaten Medien, die wegen fehlender Werbeeinnahmen teils Millionenverluste hinnehmen müssen, finanziell unterstützt werden sollen, werde bald das Parlament entscheiden, sagte Sommaruga. Es sei politisch grundsätzlich das Ziel, nun bald die Überführung ins ordentliche Recht zu planen, sagte die Bundesrätin – und das Parlament wieder stark in die politischen Prozesse mit einzubeziehen, «wie es in unserem Land üblich ist».

Während Wirtschaftsverbände und die SVP die getroffenen Massnahmen des Bundes als teils zu zögerlich kritisieren und eine schnellere Öffnung von Geschäften verlangen, legen CVP und EVP in ihren Mitteilungen zur Strategie des Bundes ihr Augenmerk auf den Schutz von Familien und die Sicherheit der Bevölkerung als oberste Priorität.

Emma Hodcroft, Epidemiologin am Biozentrum der Uni Basel, erteilt der Regierung gute Noten. «Das schrittweise Vorgehen ist sicherlich der richtige Weg. Eine sofortige Rückkehr zur Normalität wäre falsch gewesen. Ganz wichtig ist jetzt, vorsichtig zu bleiben, die Entwicklung des Virus genau zu beobachten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und die Strategie den Gegebenheiten anzupassen.»

Man müsse nun dazu übergehen, möglichst jeden einzelnen Krankheitsfall zu erkennen, die infizierte Person zu isolieren und ihre Kontaktpersonen möglichst lückenlos zu testen. «Dazu müssen die Testkapazitäten erhöht und die Kriterien dafür, wer getestet werden kann, ausgeweitet werden», sagt Hodcroft.

Reaktionen Schaffhauser Parlamentarier: Ein Schritt in die richtige Richtung, aber auch Kritikpunkte

Nationalrätin Martina Munz (SP):

«Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Die vorgeschlagene Staffelung, dass ­zuerst die Spitäler wieder mehr operieren können und Physiotherapien und Coiffeurgeschäfte wieder arbeiten dürfen, macht Sinn. Es wird auch viele freuen, dass Baumärkte, Gärtnereien und Blumengeschäfte wieder öffnen dürfen – das schien die Bevölkerung fast am meisten zu stören. Um eine zweite Epidemiewelle zu verhindern, muss jetzt breit getestet werden. Ich unterstütze auch die Einführung eines vertrauenswürdigen Tracingsystems. Besonders wichtig ist, dass die obligatorischen Schulen ab Mitte Mai wieder ­offen sind. Ihnen bleibt jetzt genügend Zeit, sich vorzubereiten, damit die nötige Distanz eingehalten werden kann. Gerade für Kinder aus sozial schwa-chen oder schwierigen Familien ist es wichtig, dass sie den Anschluss nicht verlieren.»

Ständerat Hannes Germann (SVP):

Findet, der Bundesrat handle übervorsichtig: Hannes Germann. BILD ZVG
Findet, der Bundesrat handle übervorsichtig: Hannes Germann. BILD ZVG

«Ich bin froh, dass es jetzt vorwärts geht und dass der Bundesrat eine Staffelung der Massnahmen beschlossen hat. Aber die Öffnung sollte schneller und vor ­allem breiter erfolgen. Geschäfte, die nachweisen können, dass sie die Sicherheitsvorschriften einhalten, sollten schon früher öffnen können. Und auch bei den Schulen leuchtet die Unterscheidung zwischen den obligatorischen und den weiterführenden Schulen nicht ein. Erleichtert bin ich vor allem darüber, dass die Spitäler rasch zurück zur Normalität können. Es kann doch nicht sein, dass sie Kurzarbeit beantragen müssen! Für sein übervorsichtiges und willkürliches Vorgehen nimmt der Bundesrat riesige wirtschaftliche Schäden in Kauf, die er zu Beginn unterschätzt hat. Mit einer Maskenpflicht hätte man jetzt wohl weitergehen können, aber weil sich der Bundesrat so vehement gegen die Masken ausgesprochen und auch viel zu wenige besorgt hat, kann er sich nun schwerlich auf diesen Standpunkt stellen. Dabei würde eine einfache einheitliche Regelung Sinn machen, die alle Geschäfte gleich behandelt: Wer zwei Meter Abstand garantieren kann, darf öffnen. Und wo man näher beieinander ist, braucht es Schutzvorrichtungen wie eine Maskenpflicht.

Nationalrat Thomas Hurter (SVP):

«Es ist gut, dass wir einen Schritt Richtung Normalität tun. Aber ich finde den Ansatz, dass Coiffeure und Nagelstudios zu den ersten gehören, seltsam. Wir sprechen davon, dass wir die Wirtschaft wieder anwerfen wollen und ­fangen dann bei den Coiffeuren an? Eine Öffnung der Restaurants zum Beispiel wäre wichtiger, denn sie haben unter anderem eine wichtige soziale Funktion – natürlich mit den nötigen Schutzmassnahmen und Distanzregelung. Für mich ist klar: Eine partielle Öffnung ist verbunden mit dem Ausweiten der Tests. Die Fallzahlen werden steigen. Dann dürfen wir nicht in Panik verfallen. Wir müssen breit testen können und diese betroffenen Personen isolieren. Aber wir sind jetzt nicht mehr im Coronaschock. Jetzt sind die Abläufe klar.»

Ständerat Thomas Minder war gestern nicht erreichbar. (sk)