Weil die Invalidenversicherung falsche Berechnungen anstellt, erhalten etliche Versicherte keine oder eine zu tiefe Rente. Diesen Missstand müsste der SP-Bundesrat bis Ende Jahr beheben. Klar ist aber: IV-Bezügerinnen und Bezüger können keine höheren Renten erwarten.
Ein Mann, der seit einem Unfall körperlich und psychisch eingeschränkt ist, kann nur noch leichte Hilfsarbeiten ausführen. Er kann seinen Oberkörper kaum noch bewegen und ist auf einem Auge blind. Laut Invalidenversicherung (IV) sollte der Mann im Vollzeitjob dafür 67766 Franken verdienen können; nur zwei Prozent weniger als er in seinem früheren Beruf als Anlageführer bekam. Doch das entspricht nicht den Realitäten auf dem Arbeitsmarkt.
Es sind solche Fälle, die das Parlament empört haben. Da sich Bundesrat Berset wiederholt weigerte, seine umstrittene IV-Praxis zu korrigieren, zwangen ihn Nationalrat und Ständerat vor über einem Jahr einstimmig mit einer Motion dazu, den Missstand bis Ende 2023 zu korrigieren.
Es hätte ein Befreiungsschlag werden sollen, doch nun droht dem Vorhaben der Absturz. Nicht nur schlägt Bundesrat Berset das Minimum vor. Auch bekommen Menschen, die seit einem Jahr als Folge eines Unfalls oder einer Erkrankung eingeschränkt sind, bereits jetzt weniger IV-Leistungen.
Nicht mehr Geld für die IV
Wir blenden zurück: Alle Parteien, von den Grünen bis zur SVP, werfen dem SP-Bundesrat seit Jahren vor, auf Kosten von beeinträchtigten Menschen sparen zu wollen. Denn Rechtsprofessoren und Fachleute konnten mehrfach belegen, dass die Invalidenversicherung (IV) falsche Berechnungen anstellt. Demnach sind die für die Berechnung der Umschulungen und Renten herangezogenen Löhne unrealistisch hoch. Weil die IV aus der Differenz zwischen dem bisherigen und dem künftigen Lohn den Lohnausfall errechnet, fällt dieser zu gering aus. Die Folge: Chronisch Kranke oder Verunfallte müssen auf eine Umschulung und somit auf einen beruflichen Neustart verzichten. Oder sie bekommen keine oder eine zu tiefe Rente. Dadurch werden viele von ihnen unverschuldet von der Sozialhilfe abhängig.
Das Parlament forderte von Bundesrat Berset, dass er die zu hohen Löhne mit einer statistisch und wissenschaftlich fundierten Methode korrigiert. Im vergangenen Mai gab Berset seinen Vorschlag von 10-Prozent-Pauschalabzug in die Vernehmlassung. Die Behindertenorganisationen, die meisten Parteien und Kantone lehnen den Vorschlag jedoch ab. Die Begründung: Der Pauschalabzug von 10 Prozent sei zu tief, als dass er die zu hohen Löhne angemessen nach unten korrigieren würde.
Dennoch unterstützt die ständerätliche Sozialkommission mit 7 zu 4 Stimmen bei 2 Enthaltungen den Bundesratsvorschlag. Die Behindertenorganisationen sind konsterniert. «Wir können den Entscheid nicht nachvollziehen», sagt Alex Fischer, Leiter Politik der Behindertenorganisation Procap. Er fordert einen Pauschalabzug von 17 Prozent plus Zuschläge. Die Forderung entspricht dem, was Fachleute erhoben hatten: Dass die meisten der beeinträchtigten Menschen auf dem Arbeitsmarkt bis zu 17 Prozent weniger verdienen als die IV annimmt.
Auch der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann (SVP) bedauert den Entscheid. Die Lösung sei unbefriedigend und entspreche nicht dem, was das Parlament beabsichtigt habe, sagt er. «Damit können die Versicherten bei Invalidität nicht mit den IV-Leistungen rechnen, die ihnen zustünden.»
Dem Vernehmen nach hat sich die bürgerliche Mehrheit in der Sozialkommission mit Stimmen aus der Mitte durchgesetzt. «Die Kosten haben den Ausschlag gegeben», sagt Germann. «Die Finanzpolitiker in der Kommission haben sich durchgesetzt.»
Finanz- und Sozialpolitiker rund um den Schwyzer Ständerat Alex Kuprecht (SVP) hatten sich wegen drohender Mehrkosten in dreistelliger Millionenhöhe bereits zu Beginn der Debatte gegen eine Korrektur gestellt. Der Obwaldner Ständerat Erich Ettlin (Mitte) präsidiert die Kommission und sagt: «Aus Sicht der Mehrheit der Kommission ist es kein guter Zeitpunkt, die Leistungen bei der IV anzupassen, während etwa die psychischen Erkrankungen stetig zunehmen.» Kosten des Vorschlags: 85 Millionen im Jahr
Thomas Gächter, renommierter Zürcher Sozialversicherungsrechtler, ist nicht überrascht. Er sagt: «Mit dem Vorschlag sagt der Bundesrat, wenn das Parlament gerechtere Renten will, muss es uns mehr Geld geben. Aber das will die Politik nicht, weshalb der Ständerat so entschieden hat.»
Klagen haben guten Chancen
Morgen Freitag wird die nationalrätliche Sozialkommission ihre Empfehlung abgeben. Christian Lohr, Thurgauer Nationalrat (Mitte), will einen Antrag für einen Pauschalabzug von 15 Prozent einbringen. Offenbar hat das Departements des Innern den Vorschlag bereits eingebracht, um die Ergebnisse aus der Vernehmlassung zu berücksichtigen. Kosten: rund 200 Millionen pro Jahr.
Mehr als 15 Prozent liege wohl nicht drin, glaubt Lohr. Auf Anfrage geben Vertreterinnen und Vertreter der GLP, der Mitte, der SP und den Grünen an, sich für Lohrs Antrag auszusprechen. Die SVP lehnt den Pauschalabzug jedoch ab und will den Bundesrat mit einer präzisen Methode beauftragen. Der Baselbieter Nationalrat Thomas de Courten (SVP) sagt: «Es braucht eine Korrektur. Sie wird aber viel Geld kosten. Deshalb ist es umso wichtiger, die Mittel effizient einzusetzen.» Die Methode Riemer-Kafka wäre seiner Ansicht nach präzis genug gewesen, aber die SVP wollte die Berechnung mit weiteren Faktoren präzisieren.
Eine hochkarätige Arbeitsgruppe rund um Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht, hatte eine Methode entwickelt, die anders als heute die Leistungsfähigkeit beeinträchtigter Menschen präziser berechnen kann. Sie arbeitet seit einem Jahr für das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) an den Grundlagen. Sozialversicherungsrechtler Thomas Gächter sagt, ein Pauschalabzug sei praktikabler und einfacher zu vermitteln als die Methode Riemer-Kafka. «Das BSV müsste sagen, jetzt machen wir es richtig und unterstützen Frau Riemer für eine gerechte Bemessung. Aber das will das Bundesamt offensichtlich nicht.» Die St. Galler Nationalrätin Barbara Gysi (SP) sagt dazu: «Wir haben wenig Bereitschaft gespürt vom BSV, dass sie die Methode Riemer-Kafka unterstützen.»
Selbst wenn der höhere Pauschalabzug durchkäme, glaubt Gächter jedoch nicht, dass die Rechnung für Bundesrat und Bundesamt aufgehen dürfte. «Sollte eine ab 2022 Verunfallte oder ein Erkrankter bis vor Bundesgericht für eine höhere IV-Rente klagen, dürften sie wohl recht bekommen», sagt Gächter. Mit dem Pauschalabzug hätten Beeinträchtige weniger als vor der Reform 2022. Der Grund: Der Bundesrat hat den sogenannten leidensbedingten Abzug bis maximal 25 Prozent vor zwei Jahren per Verordnung abgeschafft. «Und das erscheint mir gesetzeswidrig.»