[Schaffhauser Nachrichten] «Alle in unserem Land sollen menschenwürdig leben dürfen»

Im Gespräch mit: Hannes Germann und Finn Van Belle

In Basel haben die Jungsozialisten die Top-Verdienersteuer durchgebracht. Auch auf eidgenössischer Ebene wollen sie mit der 99-Prozent-Initiative für mehr Gerechtigkeit sorgen. Bürgerliche Politiker bemängeln, das Volksbegehren belaste die Firmen und koste letztlich Arbeitsplätze.

Reto Zanettin

Hannes Germann und Finn Van Belle unterhalten sich über die Schweizer Steuerpolitik sowie den sozialen Ausgleich zwischen Arm und Reich. BILDER ROBERTA FELE

Sollen Reiche stärker zur Staatskasse gebeten werden, und sollen die Steuermehreinnahmen in Prämienvergünstigungen, den öffentlichen Verkehr und andere Service-Public-Leistungen fliessen? Darum dreht sich die 99-Prozent-Initiative. Stimmen Volk und Stände zu, müssen sehr vermögende Leute Kapitaleinkommen wie Dividenden und Zinsen anderthalbfach versteuern, sofern diese einen noch nicht näher bestimmten Freibetrag überschreiten. So schaffe man Gerechtigkeit, finden Jungsozialisten wie Finn Van Belle, Co-Präsident der Juso Schaffhausen. Nachteile für Firmen und Arbeitnehmer sehen Kritiker wie der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann (SVP) heranziehen. Im SN-Streitgespräch lassen die beiden Politiker auch Gemeinsamkeiten erkennen.

Herr Germann, ein Prozent der Bevölkerung besitzt 43 Prozent des Vermögens, die 300 Reichsten im Land wurden in der Coronakrise noch reicher. Am anderen Ende der Wohlstandsskala befinden sich Menschen, die gegen Ende Monat schlicht kein Geld mehr haben. Bereitet Ihnen das keine Sorgen?

Hannes Germann: Doch. Es ist zentral, dass wir den Wohlstand in unserem Land mehren. Daran hängt die Zukunft unserer Sozialsysteme – davon profitieren wir alle. Gewiss müssen wir Armut weiter verringern und den Menschen eine Chance auf Integration geben. Dabei haben wir noch nicht alle Aufgaben gelöst. Doch die 99-Prozent-Initiative schiesst weit über das Ziel hinaus und erst noch daneben.

Finn Van Belle: Ich stimme zu, den Wohlstand mehren ist wichtig. Die Frage ist nur, wie er verteilt wird. Zurzeit werden nur die Vermögendsten reicher, während andere ihre Miete kaum bezahlen können. Deshalb driften die Schichten immer weiter auseinander, und es droht eine Spaltung der Gesellschaft.

Die steile Progression in der Einkommensbesteuerung und die Umverteilung über die Sozialwerke bewirken bereits heute einen sozialen Ausgleich. Die Schweiz liegt bei der Wohlstandsverteilung im Mittelfeld der hoch entwickelten Länder. Warum braucht es nun noch die Juso- Initiative?

Finn Van Belle ist Co-Präsident der Schaffhauser Jungsozialisten.

Van Belle: Weil es noch nicht genügt. Wenn Millionäre sogar während einer Jahrhundertkrise wie Corona noch vermögender werden, während andere noch ärmer werden und ihnen sogar noch Geld genommen wird, stimmt in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem etwas nicht. Ausserdem klingt es immer schmeichelhaft, wenn man im Mittelfeld liegt. Doch die Schweiz sollte ganz oben stehen – dort, wo alle gleichermassen am Wohlstand teilhaben können.

Germann: Niemandem wurde etwas weggenommen. Im Gegenteil konnten wir durch umfangreiche Unterstützungsprogramme Arbeitsplätze erhalten. Zudem funktionieren beispielsweise die Sozialhilfe und die Prämienvergünstigung bestens. Und zum Glück haben sich die Kapitalmärkte gut entwickelt. Denn davon profitieren die Pensionskassen und damit alle, die jetzt und dereinst eine Rente beziehen.

Es ist aber unbestritten, dass es einige wenige sehr reiche Leute in unserem Land gibt.

Germann: Das ist doch kein Problem. Im Gegenteil: Diese Leute bewirken viel Gutes, sei es als Mäzene in Kultur und Sport, oder sei es, indem sie überproportional hohe Steuern bezahlen. Wieder andere rufen Stiftungen ins Leben oder übernehmen Freiwilligenmandate in wohltätigen Organisationen. Insofern können wir uns freuen, wenn ihr Vermögen steigt. Mit der anderthalbfachen Besteuerung von Kapitalerträgen schaffen wir zwei Einkommenskategorien: Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen.

Van Belle: Diese Einkommenskategorien gibt es heute schon. Während das Arbeitseinkommen zu 100 Prozent versteuert wird, werden es Dividenden nur teilweise. Die Gerechtigkeit zwischen Leuten, die sich täglich an der Migros- oder Coopkasse abmühen, und Personen, die an der Börse zocken und keinen Finger krumm machen, fehlt.

Sie zeichnen ein etwas gar holzschnittartiges Bild. Es gibt Unternehmer, die über Jahre hinweg eine Firma aufgebaut haben.

Van Belle: Deshalb schlagen wir eine Freigrenze von 100 000 Franken vor. Bei einer Rendite von drei Prozent – das ist eine konservative Annahme – müsste jemand 3,3 Millionen Franken Vermögen haben, damit ihn die Initiative überhaupt berührt. Zusätzlich wird die bürgerliche Mehrheit im Parlament die Freigrenze eher noch nach oben verschieben, sodass KMU-Inhaber nicht betroffen sein werden.

Hannes Germann politisiert seit 2002 im Ständerat.

Germann: Tatsächlich lässt die Initiative vieles offen. Beim Freibetrag gäbe es im Parlament sehr wahrscheinlich ein Tauziehen – nach unten und nach oben. Man muss aber einfach eines bedenken: Nicht alle Vermögenden sind Spekulanten. Wer investiert, geht Risiken ein und schafft dadurch Arbeitsplätze und Einkommen für andere. In dieser Hinsicht ist die Initiative kontraproduktiv.

Van Belle: Dazu muss ich zweierlei sagen. Die Initiative unterscheidet zwischen natürlichen und juristischen Personen. Sie zielt nur auf Privatpersonen. Firmen, die in Maschinen investieren, sind nicht betroffen.

Germann: Viele Unternehmer und auch andere Aktionäre halten ihr Kapital privat. Eine klare Trennung, wie Sie sie beschreiben, ist kaum möglich.

Sie wollten einen zweiten Punkt ansprechen, Herr Van Belle.

Van Belle: Es gibt mehrere Studien, wonach die Investitionen bei steigender Steuerlast nicht zurückgehen.

Germann: Das kann ohne Weiteres sein. Jeder, der Vermögen anlegt, möchte das Bestmögliche daraus machen. Und er wird Wege dazu finden. Dennoch mindert man die Kaufkraft, wenn man den Leuten Geld wegnimmt. Ausserdem ist das Kapital mobil, kann ins Ausland verlagert werden.

Van Belle: Dieses Argument bringen die Bürgerlichen immer wieder. Doch die Fakten liegen anders. Die Mobilität zwischen In- und Ausland ist geringer als zwischen den Kantonen. Das beweist, dass Sicherheit, politische Stabilität und gut ausgebildete Berufsleute die Schweiz attraktiv machen. Allein wegen höheren Steuern ziehen höchstens ein paar wenige Personen weg.

Germann: Einverstanden. Aber wir haben auch den umgekehrten Fall erlebt. Leute sind in die Schweiz gekommen, weil unser Land all die erwähnten Vorzüge bietet und erst noch steuerlich günstig ist.

Die Gegner argumentieren, in hiesigen Familienunternehmen würde der Nachfolgeprozess durch die Initiative erschwert. Ist das ein reales Problem oder ebenfalls bloss ein Scheinargument?

Germann: Es ist kein Scheinargument. Die Nachfolgeregelung in Familienbetrieben ist anspruchsvoll.

Inwiefern?

Germann: Beispielsweise muss man einen geeigneten Nachfolger finden, der Geld in die Hand nimmt, ein unternehmerisches Risiko eingeht und möglicherweise noch andere Teilhaber ausbezahlt. Der veräussernde Inhaber müsste den Erlös aus dem Firmenverkauf anderthalbfach besteuern, obwohl er ihn als Firmengewinn und Vermögen schon x-fach besteuern musste. Das trifft besonders KMU-Inhaber, die ihre Altersvorsorge ins Unternehmen investiert haben. Sie wären die Betrogenen.

Van Belle: Für solche Fälle bietet die Initiative Raum für Ausnahmeregelungen. Unser Anliegen ist aber ein anderes: Wir wollen einen Grundsatz in die Verfassung schreiben. Würden wir alles bis ins Detail festlegen, würden sich die Bürgerlichen ebenfalls beschweren.

Germann: Mit Ihrer Grundsatzregelung verstossen Sie aber gegen bestehende Grundsätze. Wir besteuern nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und der Gleichmässigkeit. Die 150-prozentige Belastung von Kapitaleinkommen verstösst dagegen.

Van Belle: Wie gesagt, Dividenden werden heute nur zum Teil besteuert. Auch da ist das System nicht konsequent.

Germann: Dividenden bei Unternehmern werden deshalb nur teilweise besteuert, weil diese als Unternehmensgewinne bereits vorgängig mit der Gewinnsteuer belastet worden sind. Ziel der Teilbesteuerung ist die Vermeidung einer vollständigen Doppelbesteuerung.

Eine bedeutende Gruppe, die betroffen sein könnte, wären die Mieter, wenn ihnen die Hauseigentümer die höhere Steuerlast überwälzen.

Van Belle: So weit wird es nicht kommen, weil die Initiative so austariert ist, dass der Grossteil der Vermieter nichts zu spüren bekommt.

Germann: Wenn jemand mehrere Liegenschaften besitzt, kommt er rasch einmal auf 100 000 Franken Mieteinnahmen. Die Mehrbelastung wird logischerweise den Mietern überwälzt, da wir das System der Kostenmieten haben.

Die Initianten reden von 10 Milliarden Steuermehreinnahmen. Ist das realistisch?

Germann: Das kann hinkommen, wobei es auf die Umsetzung ankommt.

Van Belle: Dieses Geld kommt den Leuten mit mittleren und tiefen Einkommen zugute. Gerade mit Blick auf die Altersvorsorge tun wir gut daran, den Mittelstand zu stärken.

Germann: Man muss aufpassen, dass man das System nicht übersteuert. Gerade die Gutverdiener bezahlen schon jetzt ein Mehrfaches dessen in die AHV ein, als sie später erhalten.

Dennoch muss man in unserer direkten Demokratie schauen, dass die Schere nicht allzu weit aufgeht. Denn wer viel Geld hat, kann politisch mehr bewirken.

Germann: Lobbyismus läuft vor allem über Verbände. Diese kennen wir und können einschätzen, wer dahintersteckt. Dass einzelne Politiker sich davon beeinflussen lassen, ist möglich. Aber das Volk lässt sich nicht bestechen. Wir sind eine reife Demokratie.

Van Belle: Geld ist Macht. Wer es hat, kann Medienhäuser kaufen oder gross angelegte Kampagnen fahren. Da darf man sich nichts vormachen. Es braucht also einen Ausgleich, damit die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala politisch nicht untergehen.

Germann: Auch die Gewerkschaften, Konsumentenschutzorganisationen oder Umweltverbände wie WWF und Greenpeace haben enorm viel Geld.

Wir reden gerade davon, wer viel Geld hat. Hier die Reichen, dort die Armen. Untergräbt das nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der in der Pandemie besonders wichtig ist?

Van Belle: Im Gegenteil. Wir stärken den Zusammenhalt, weil wir für einen sozialen Ausgleich einstehen und dafür kämpfen, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht noch weiter aufgeht. Alle in unserem Land sollen menschenwürdig leben dürfen.

Germann: Das haben wir bereits verwirklicht. Unser Sozialsystem trägt auch jene, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten oder sich die Krankenkassenprämien nicht selbst leisten können. Eine Neiddiskussion jedenfalls bringt nichts, hat aber Spaltungspotenzial.

Was bleibt, wenn die Initiative scheitert?

Van Belle: Die Grundsatzdiskussion um Fairness wird bleiben. Wir Jungsozialisten verfolgen mit der 99-Prozent-Initiative ein bürgerliches Ideal: Arbeitsleistung soll sich lohnen. Das wollen wir weiterhin betonen.

Finn Van Belle

Der aus Belgien stammende Van Belle bildet seit Anfang 2021 zusammen mit Alena Roth das Co-Präsidium der Juso Schaffhausen. Der 18-Jährige bezeichnet sich selbst auch als Klimaaktivist, der für eine sozialere, ökologischere und offenere Welt einsteht.

Hannes Germann

Der SVP-Politiker vertritt den Kanton Schaffhausen seit 2002 im Ständerat. Er ist Mitglied der Wirtschaftskommission sowie der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Der 65-Jährige ist verheiratet und lebt in Opfertshofen.