Die OECD-Mindeststeuer entspricht einem lang gehegten Wunsch der SP. Trotzdem sagt die Partei und ihre Vizepräsidentin, Jacqueline Badran, Nein zur Schweizer Umsetzungsvorlage. Denn von dieser profitierten vor allem Zug und Basel-Stadt, nicht aber die ganze Schweizer Bevölkerung. Ja zur Vorlage sagt Hannes Germann von der SVP. Wichtig sei, dass Steuergeld, Unternehmen und Arbeitsplätze in der Schweiz blieben.
Steuerpolitik ist spröde? Sicher nicht, wenn Jacqueline Badran und Hannes Germann sich dazu verbal duellieren. Er darauf bedacht, dass die Schweiz die OECD-Mindeststeuer rechtzeitig umsetzt. Sie leidenschaftlich aufgebracht, bisweilen im Stehen und mit allerlei Zahlenmaterial. Das Gespräch endet nach 48 Minuten frühzeitig. Es ist der Moment, in dem Jacqueline Badran den Raum verlässt. Vieles ist dennoch gesagt worden – unter anderem, dass Schaffhausen schlecht wegkommen könnte, wenn die Reform wie geplant umgesetzt wird. Aber auch, dass Unternehmen abwandern könnten, wenn dies nicht gelingt.
Herr Germann, die OECD-Steuerreform wird in vielen Kantonen, auch in Schaffhausen, höhere Firmensteuern bringen und greift zudem in die Steuerautonomie der Schweiz ein. Wie lässt sich dies aus bürgerlicher Sicht rechtfertigen?
Hannes Germann: Die Schweiz wird zu dieser Reform genötigt. Mir gefällt der Druck der OECD auch nicht. Aber wir sind damit konfrontiert und haben de facto keine Wahl, als mitzumachen. Am Ende des Tages müssen wir unseren Wirtschaftsstandort attraktiv halten, denn daran hängen Wohlstand, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Wir sollten somit für Rechtssicherheit sorgen, damit Unternehmen in der Schweiz bleiben und nicht abwandern.
Jacqueline Badran: Wir haben ohnehin eine geteilte Autonomie in der Steuerpolitik und viele Artikel der Bundessteuergesetze, die sich massiv auf Kantone und Gemeinden auswirken. Denken wir zum Beispiel an das Holdingprivileg. Zum Punkt, dass die Unternehmen abwandern: Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Folglich sollten Unternehmen ihre Gewinne nicht über Steuervermeidung, sondern über Leistung erzielen. Natürlich hat die Schweiz als Tiefsteuerland von früheren fragwürdigen Praktiken profitiert. Jetzt aber hat die OECD dem Steuerdumping endlich einen Riegel geschoben. Daher kommen nun andere Standortvorteile zum Tragen.
Germann: Was hat die Schweiz hier zu bieten?
Badran: Ein enorm liberales Arbeitsgesetz, ein schlankes Rechtssystem, ein stabiles politisches System, tiefe Inflation, eine solide Währung, eine sensationelle Infrastruktur und vorzüglich ausgebildete Menschen.
Germann: Diese Trümpfe wird die Schweiz auch in Zukunft ausspielen können, ja müssen. Aber über diese Standortvorteile stimmen wir nicht ab. Es geht in dieser Abstimmung um die Mindestbesteuerung und darum, wie die Schweiz das OECD-Regime so vorteilhaft wie möglich umsetzt.
Badran: Vier Professoren und eine Professorin der Universität St. Gallen und der Universität Luzern haben eine Umsetzung in den Kantonen vorgeschlagen. Die Experten sehen darin eine föderalismusfreundliche Alternative zur aktuellen Umsetzungsvorlage. Warum haben Sie an dieser Stelle nicht auf die Wissenschaft gehört?
Germann: Über solche Vorschläge hat man diskutiert. Doch die Zeit war knapp, es musste schnell gehen. Wir wollten zudem verhindern, dass es schweizweit 26 verschiedene Umsetzungen der globalen Mindeststeuer gibt. Es ist fraglich, ob diese Insellösungen akzeptiert worden wären.
Badran: Den Vorschlag der Professoren haben wir nicht weiterverfolgt, weil wir zwingend eine Verfassungsgrundlage brauchen, damit wir Unternehmen unterschiedlich besteuern können – Firmen mit mehr als 750 Millionen Euro Umsatz zu mindestens 15 Prozent nach OECD-Regeln, Firmen mit weniger als 750 Millionen Euro Umsatz wie bisher.
Der Bund wäre nicht aussen vor geblieben, und es hätte auch im Vorschlag der Professorengruppe eine Verfassungsbestimmung gegeben – eine schlankere als die jetzt geplante.
Germann: Man hätte ein progressives Steuermodell wählen können. Dann wäre man um das Problem herumgekommen, dass man Grossunternehmen und KMU unterschiedlich besteuert. Diese Lösung hätte analog zur Besteuerung von natürlichen Personen funktioniert, die ebenfalls eine Progression kennt.
Badran: Die Pointe ist, dass die OECD eine Nachbesteuerungsregel formuliert hat. Wenn ein Land die Firmen unterbesteuert, dürfen andere Länder die Differenz zur Mindestbesteuerung abschöpfen. Deswegen müssen wir uns an den Vorgaben orientieren. Und dafür brauchen wir eine umfassende Verfassungsbestimmung.
Germann: Genau das stellen wir mit einem Ja sicher. Ich räume aber ein, dass diese Lösung nicht das Ei des Kolumbus ist. Aber wir haben eine Vorlage, die man mit etwas Pragmatismus befürworten kann. Mit dem Vorteil, dass der Bundesrat die Reform per Verordnung schneller einführen kann als auf dem Gesetzesweg. So verhindern wir, dass die Firmen in die unmögliche Situation geraten, dass sie Steuerverfahren mit 140 anderen Ländern bewältigen müssen. Wir schaffen also Rechtssicherheit und erweisen uns als zuverlässige Partner für Unternehmen wie auch in den internationalen Beziehungen.
Frau Badran, Sie haben, wie Sie kürzlich sagten, einen Lernprozess durchgemacht: Zunächst beantragten Sie in der SP Stimmfreigabe, nun sagen Sie Nein. Weshalb?
Badran: Ich und das SP-Präsidium wollten mit dem Antrag auf Stimmfreigabe die Ambivalenz der Vorlage unterstreichen. Einerseits haben wir mit der Mindeststeuer endlich dem Steuerdumping einen Riegel geschoben. Für diese Steuerharmonisierung haben wir Jahrzehnte gekämpft. Es ist doch richtig, dass Firmen, die 365 Tage im Jahr von öffentlichen Leistungen profitieren, anständig Steuern bezahlen. Andererseits, und diese Einsicht kam allmählich, hat mich die Verteilung der Mehreinnahmen aus dieser Reform unter den Kantonen zu einem Nein bewegt.
Was ist falsch daran?
Badran: Das ganze Steuerdumping von globalen Unternehmen fällt nicht vom Himmel. Die Bevölkerung bezahlt für die entgangenen Firmensteuereinnahmen entweder über Steuern oder darüber, dass öffentliche Leistungen nicht erbracht werden. Wir als Politiker müssen jetzt dafür sorgen, dass das aufhört und alle von der Mindeststeuerreform profitieren. Das heisst auch, dass Zug und Basel-Stadt nicht den Löwenanteil der Zusatzeinnahmen erhalten dürfen. Dies zudem deshalb nicht, weil unter dem Stichwort Standortförderung im Kanton Zug Unternehmen wie Glencore subventioniert werden sollen.
Germann: Es stimmt einfach nicht, dass die Unternehmen zu wenig Steuern bezahlt haben. Sie leisten sogar immer mehr für das Gemeinwesen. 1990 haben sie 2,2 Milliarden Franken an den Bund überwiesen. Anschliessend folgten diverse Reformen. Heute liefern Unternehmen sage und schreibe 14 Milliarden Franken allein dem eidgenössischen Fiskus ab …
Badran: … weil die Gewinne explodiert sind …
Germann: … dieser Anstieg entspricht einer Versechsfachung innerhalb von drei Jahrzehnten. Das ist eine massive Steigerung und zeugt von einer erfolgreichen Steuer- und Standortpolitik, von der auch Kantone, Städte und Gemeinden profitieren.
Badran: Das hat mit der Abstimmung nichts zu tun.
Germann: Doch. Wir brauchen verlässliche Bedingungen für die Unternehmen, die unseren Staat zu einem wachsenden Teil mitfinanzieren. Besonders die mobilen Firmen – und davon gibt es in Schaffhausen einige – ziehen weg oder investieren im Ausland, wenn wir sie am 1. Januar 2024 im Ungewissen lassen.
Badran: Auf jeden Fall kann es nicht sein, dass die Mehreinnahmen wieder in den Konzernzentralen landen. Das Geld muss zurück an den Mittelstand fliessen.
Germann: Überlassen Sie das doch den Kantonen. Diese wissen am besten, wie sie das Geld einsetzen. Ausserdem müssten sich die Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren stets vor dem Kantonsparlament und dem Volk rechtfertigen. Eine allzu einseitige Mittelverwendung zugunsten der Unternehmen würde sicher nicht goutiert werden.
Badran: Wenn man Zug 320 Millionen Franken zuschiebt, also 1800 Franken pro Person, finanziert man sinkende Vermögenssteuern. Und das schadet Schaffhausen, weil die Reichen nach Zug ziehen werden. Das verringert das Steuersubstrat in Ihrem Kanton und netto sogar auch schweizweit. Das ist inakzeptabel.
Germann: Mir ist es lieber, dass die Mehreinnahmen überhaupt in der Schweiz bleiben und nicht – wie bei einem Nein zu befürchten ist – ins Ausland abwandern. Die Verteilung im Inland können wir anschliessend immer noch ändern. Ob Zug im Augenblick obenausschwingt oder Schaffhausen weniger als die Innerschweizer profitiert, ist eine nachgelagerte Frage. Wir müssen uns zuerst gegenüber dem Ausland absichern und die OECD-Vorgaben erfüllen, sonst sind wir alle Verlierer.
Wird der Finanzausgleich für eine angemessene Umverteilung zwischen den Kantonen sorgen?
Badran: Beim aktuell gewählten Verteilschlüssel erhalten die Kantone drei Viertel der Mehreinnahmen. Fakt ist dabei zugleich, dass Zug pro Kopf 180-mal mehr Geld erhält als Schaffhausen. Nach dem Finanzausgleich sind es noch 82-mal mehr. Deswegen haben wir eine andere Verteilung vorgeschlagen.
Germann: … über die wir jetzt aber nicht abstimmen …
Badran: Unser Vorschlag sieht eine 50/50-Verteilung mit Deckel vor. Pro Kopf darf ein Kanton nur 400 Franken erhalten. Der Rest wird umverteilt.
Mit welcher Wirkung?
Badran: Zug würde pro Kopf nur noch 4-mal mehr als Schaffhausen erhalten. Dafür müssten Sie als Ständerat Feuer und Flamme sein.
Germann: Dann würde mich interessieren, woher Sie diese Zahlen überhaupt haben. Es bringt ausserdem doch nichts, wenn wir wegen des Extremfalls Zug die ganze Reform kippen. Dieser Kanton gibt sehr viel mehr als andere Kantone in den Finanzausgleich. Und mit diesem werden wir die Zusatzmittel aus dieser Reform fair verteilen.
Badran: Schaffhausen wird zum grossen Verlierer. In absoluten Zahlen: Bei der aktuell geplanten Umsetzung erhält der Kanton 100 Franken pro Person, bevor er Geld in den Finanzausgleich einbezahlt hat. Nach dieser Zahlung bleiben noch 20 Franken pro Person. Zug behält nach dem Finanzausgleich 1650 Franken pro Person. Das kann man doch nicht gutheissen.
Germann: Sie verteilen Steuereinnahmen um, die wir noch gar nicht haben. Natürlich könnte man das Geld unter den Kantonen geeigneter verteilen. Jetzt aber geben wir dem Bund ein Viertel, den Kantonen und Gemeinden insgesamt drei Viertel. Denn was ihr bei der SP völlig übersehen habt: Die Standortgemeinden der grossen Unternehmen sind es, welche die Infrastruktur bereitstellen, die Spitäler, Spitex, die Schulen, die Kinderkrippen, die Sozialhilfe und so weiter. Deshalb ist es für mich nichts als logisch, dass die Städte und Gemeinden einen fairen Anteil bekommen.
Doch wenn Jacqueline Badrans Zahlen stimmen, bleibt für Schaffhausen am Ende nur wenig übrig.
Germann: Ich bin stolz auf meinen Kanton. Er hat sich durch eine weitsichtige Finanz- und Wirtschaftspolitik zum Geberkanton entwickelt. Und wenn wir dadurch in der Lage sind, schwächere Kantone zu unterstützen, halte ich das nicht für falsch.
Badran: Aber die Extreme verstärken sich, wenn Zug und Basel-Stadt, die sowieso schon stark sind, den anderen enteilen.
Germann: Wir sollten die Reform, die für das Land als Ganzes und damit für jeden einzelnen Kanton wichtig ist, nicht wegen den zwei Extremfällen Zug und Basel scheitern lassen. Wenn die Reform in der Abstimmung durchfällt und dann eine Firma wie Johnson & Johnson Teile verlagern würde, stünde Schaffhausen schlechter da als mit der Reform. Selbst wenn diese nur 20 Franken pro Person bringen sollte. Das ist allemal besser, als Arbeitsplätze und Steuereinnahmen zu verlieren.
Badran: Warum soll Johnson & Johnson wegziehen?
Germann: Das ist nur ein Beispiel. Johnson & Johnson wird nicht wegziehen. Aber bei den Global Players stellen sich Standortfragen permanent. Tatsache ist, dass es für global tätige Unternehmen äusserst unangenehm wird, wenn wir am 1. Januar 2024 keine Lösung haben.
Badran: Für Firmen spielt dieses Datum doch keine Rolle. Sie müssen 15 Prozent Gewinnsteuer abliefern, egal, ob die Schweiz die Mindestbesteuerung einführt oder nicht.
Germann: Aber mindestens der Steuerwettbewerb relativiert sich ja, indem grosse Unternehmensgruppen künftig 15 Prozent bezahlen müssen – die Verteilung zwischen Bund und Kantonen ist für sie irrelevant.
Badran: Sehen Sie denn nicht, was in diesem Steuerwettbewerb läuft? Zwei Kantone profitieren, die anderen haben fast nichts von dieser Reform. Das ist kein Wettbewerb, das ist Leidwerkerei.
Germann: Wenn das System so schlecht wäre, hätten wir wohl kaum den heutigen Wohlstand und unsere soziale Wohlfahrt. Um dies weiterhin zu gewährleisten, brauchen wir jetzt die eidgenössische Verfassungsgrundlage. Sollte die Umverteilung nicht wie gewünscht funktionieren, können wir die Anpassungen bei der zwingend folgenden Gesetzgebung vornehmen.
Badran: Sicher nicht. Wenn das Gesetz in ein paar Jahren kommt, werdet Ihr Bürgerlichen behaupten, das System habe sich eingespielt, es solle nicht geändert werden. Darum müssen wir in dieser Abstimmung die Weichen für eine faire Verteilung stellen.
Sie von den Sozialdemokraten sagen, der Steuerwettbewerb verschärfe sich. Wie kann das sein? Die Mindeststeuer von 15 Prozent dämmt den Wettbewerb doch gerade ein.
Badran: International wird der Steuerwettbewerb eingedämmt, ja. Aber innerhalb der Schweiz verstärkt er sich. Zug will Vermögenssteuern für natürliche Personen senken, Luzern möchte die Kapitalsteuer auf 0,001 Promille senken und damit KMU aus Zug anlocken.
Germann: Schaffhausen wird sich vernünftig und solidarisch verhalten.
Wie geht es nach dem 18. Juni weiter?
Badran: Nach einem Nein schickt der Bundesrat die gleiche Vorlage mit einem gerechteren, klügeren Verteilschlüssel ins Parlament. Wir werden sie in der Herbstsession behandeln. Im März stimmen wir ab und führen die Reform rückwirkend ein. Zugegeben, das ist juristisch unschön und kostet uns im schlimmsten Fall für ein einziges Jahr Steuergeld. Aber es ist die beste Lösung, weil wir 7,5 Millionen Menschen, 18 Kantone und den Bund um Hunderte von Millionen Franken Jahr für Jahr besserstellen können.
Germann: Dieser Fahrplan ist illusorisch. Wir werden die Reform nicht derart durchpeitschen können. Zeit, in der Steuergeld ins Ausland fliesst und Unternehmen und Know-how abwandern, wird verstreichen. Derart unverantwortlich darf man mit Steuergeld und Arbeitsplätzen nicht umgehen. Deshalb brauchen wir ein Ja zu dieser Verfassungsgrundlage. Sollte irgendetwas aus dem Ruder laufen, können wir es aufgrund der ersten Erfahrungen korrigieren.