[Schaffhauser Nachrichten] «Der Gemeindeverband ist kein bürgerlicher Klub»

Die Gemeinden bilden als unterste politische Einheit die Grundlage für den Erfolg der Schweiz. Hannes Germann hat ihre Interessen 16 Jahre lang als Präsident des Schweizerischen Gemeindeverbands vertreten. Nun tritt er ab und zieht Bilanz.

Im Gespräch mit: Hannes Germann

Tobias Bolli

Der alte und der neue: Am Donnerstag hat Hannes Germann (r.) sein Präsidialamt an Mathias Zopfi abgegeben. BILD TILL BURGHERR

25 Jahre wirkte Ständerat Hannes Germann im Vorstand des Schweizerischen Gemeindeverbands, der die Interessen der Gemeinden in Bundesbern vertritt, 16 Jahre davon als Präsident. Eine Ära, die nun Geschichte ist. Am Donnerstag hat Germann das Zepter seinem Nachfolger Mathias Zopfi in die Hand gedrückt. Im Interview blickt der Schaffhauser Ständerat auf intensive Jahre zurück, in denen sich die Gemeinden gegenüber dem Bund immer wieder Geltung verschaffen mussten.

Herr Germann, wie kam es dazu, dass sie vor 25 Jahren beim Schweizerischen Gemeindeverband (SGV) angefangen haben?

Hannes Germann: Das hat eine spezielle Vorgeschichte. Von 1997 bis 2008 war ich Gemeindepräsident von Opfertshofen, der Vertreter von Schaffhausen im Gemeindeverband war damals alt Nationalrat Walter Stamm. Als dieser 1999 zurücktrat, erwähnte der Vorsitzende der Schaffhauser Gemeindepräsidenten an der Jahresversammlung wie beiläufig, dass noch ein Nachfolger für Walter Stamm gesucht werde. Er hat in die Runde geschaut und gesagt: «Gell, Hannes, du machsch das scho.» Darauf haben die anderen applaudiert, und die Sache war erledigt.

Der SGV vertritt den Anspruch der Gemeinden auf autonome Organisation und Aufgabenerfüllung. Ist dieser Anspruch in unserem Schweizer System nicht ohnehin schon fest zementiert?

Germann: Zumindest theoretisch sollen Aufgaben auf jener Ebene erledigt werden, die am besten dafür geeignet ist. Aber in der Praxis nehmen Aufgaben auf Bundesebene seit Jahrzehnten zu, man neigt dazu, immer mehr auf übergeordneter Ebene lösen zu wollen. Meinem Nachfolger wird die Arbeit deshalb nicht ausgehen.

Können Sie ein Beispiel für diese Tendenz nennen?

Germann: Ein aktuelles Beispiel ist der Beschleunigungserlass bei der Raumplanung, der Verfahren für den Zubau von erneuerbaren Energien verkürzen will. Man will auf übergeordneter Ebene Standorte festlegen und am Schluss ein Windrad auf irgendein Gemeindegebiet stellen. Oder jemand findet: In Stetten hat es besonders viel Sonne, also machen wir dort eine Solaranlage. Gemeinden sollen sich nur noch in Plangenehmigungsverfahren einbringen, nicht aber selber entscheiden dürfen, ob sie den Windpark oder die Fotovoltaikanlage bei sich haben wollen.

Letztlich will niemand ein Windrad vor seiner Haustüre. Alle aber wollen den Strom, den dieses Windrad produziert. Bleiben wir in Energiefragen nicht ewig stecken, wenn wir den Gemeinden das letzte Wort lassen?

Germann: Wenn man das Gefühl hat, man komme nicht weiter, hebelt man gerne eine Instanz aus. So sollten wir in der Schweiz nicht miteinander umgehen, das ist nicht unser demokratischer Stil. Im Übrigen sind es meist die Umweltverbände, die notwendige Projekte verhindern. Besser würde man der Gemeinde oder einer Region stattdessen etwas anbieten – ein Abgeltungssystem analog zum Wasserzins. Dank dieser Zinsen können viele Berggemeinden ihre weitläufige und teure Infrastruktur erhalten. Wünschenswert wäre ein Pendant für die Wind- und die Solarenergie.

Was konnten Sie in Ihrer Amtszeit konkret für die Gemeinden erreichen?

Germann: Zentral ist der Artikel 50, der sogenannte Gemeindeartikel der revidierten Bundesverfassung, für den wir hart kämpfen mussten. Er verpflichtet den Bund, Rücksicht auf die Gemeinden zu nehmen und garantiert ihnen ein Mitspracherecht auf Bundesebene. Das gab unserem Verband einen wirksamen Hebel in die Hand. Plötzlich waren wir zu Vernehmlassungsverfahren eingeladen, konnten Stellung nehmen zu Kultur, Raumplanung, Asylfragen und so weiter und das in einer sehr frühen Phase der Entscheidungsfindung.

Die Gemeinden in der Schweiz sind höchst unterschiedlich: links, rechts, ländlich, urban. Ist es nicht schwierig, einen gemeinsamen Nenner zu finden?

Germann: Ich lege grossen Wert darauf, dass der Gemeindeverband nicht ein bürgerlicher Klub ist, sondern von links bis rechts alle eine Stimme haben. Erstaunlicherweise finden wir in den meisten Fragen eine gemeinsame Basis. Die wenigsten Gemeinden schätzen es, wenn sie etwa bei der Realisierung eines Strassenprojekts nicht mitreden dürfen.

Wie haben sich die Gemeinden in den letzten 25 Jahren verändert?

Germann: Mit der Zunahme der Mobilität haben kleine Strukturen an Bedeutung verloren. Weil man Ämter nicht mehr besetzen konnte, brauchte es Strukturänderungen. Ein radikales Beispiel dafür ist der Kanton Glarus, der aus zwei Dutzend Gemeinden drei gemacht hat. Als Gemeindeverband haben wir uns zu diesem Thema immer sehr neutral verhalten: Eine Fusion kann ein Weg sein, muss aber nicht. Wichtig ist, dass die Gemeinden die Fusionen freiwillig beschliessen und nicht dazu gezwungen werden. Im Idealfall ist es eine Liebesheirat, im realen Fall wahrscheinlich eine Zweckheirat, wie bei unseren vier Reiatgemeinden und Thayngen.

Sie sagen, Sie sind nicht gegen Fusionen. Aber geht durch das Zusammenziehen kleinerer Einheiten nicht immer auch ein Stück Autonomie verloren?

Germann: Auf den ersten Blick mag das so sein. Aber manchmal haben kleine Gemeinden nicht mehr genügend Ressourcen, um alleine sinnvoll über die Runden zu kommen. Dann gewinnen sie durch die Fusion eher wieder an Autonomie.

Eine Thematik, die viele Gemeinden beschäftigt, sind die ihnen zugewiesenen Asylsuchenden. Welche Forderungen erheben Sie hier als Gemeindeverband?

Germann: Unser Hauptanliegen wäre es, dass der Bund schnellere Entscheide fällt. Je schneller der positive Asylbescheid, desto eher kann mit der Integrationsarbeit begonnen werden. Grosse Sorgen bereitet den Gemeinden der momentan sehr hohe Zustrom von Asylsuchenden. Immer problematischer wird der Sonderstatus S für die Ukraine-Flüchtlinge, wo zunehmend Missbrauch festgestellt wird.

Wie hat der Gemeindeverband die Pandemie erlebt, als viel von oben herab verordnet wurde?

Germann: Es war extrem. Massnahmen wurden am Wochenende angeordnet, und – basta – von Montag an galten sie. Die Gemeindestäbe hatten nichts zu sagen, waren aber gefordert, die Sicherheitskonzepte durchzusetzen. Dabei findet das Leben ja nicht beim Bund statt, sondern zu Hause in den Quartieren, in den Gemeinden und in den Städten.

Andererseits lässt sich eine Krise kaum bewältigen, wenn alle immer mitbestimmen können.

Germann: Die Kantone und die Gemeinden müssen früh und eng einbezogen werden. Übrigens lohnt sich das auch zum Beispiel beim Thema Energieknappheit. Man muss die lokalen Gegebenheiten kennen, ansonsten funktioniert das Konzept nicht. Hier hat der Bundesrat aber rasch gehandelt und uns in den Steuerungsausschuss für eine sichere Energieversorgung aufgenommen.

Die Gemeinden können nur funktionieren, wenn sich genügend Leute einbringen. Wie steht es heute um unser Milizsystem?

Germann: Das Milizsystem ist ein Erfolgskonzept in unserem Land. Aber wir sind gefordert, gute Leute dafür zu gewinnen, die ihre beruflichen und soialen Kompetenzen in der Gemeinde einbringen. Wir haben hier einige Erfolge erzielt: mit einem Ausbildungsprogramm für Gemeindeangestellte, mit der Förderung von Frauen und der jüngeren Generation sowie mit dem Einbezug der Arbeitgeber. Unterdessen sind viele Unternehmen dazu bereit, ihren Angestellten einige Stunden pro Woche zu gewähren, die sie während der Arbeitszeit für ein Milizamt einsetzen dürfen.