In zehn Tagen wird der Nationalrat das Schicksal beeinträchtigter Arbeiter und Angestellter verbessern und die Untätigkeit von Bundesrat Berset beenden – zum Missfallen seines Departements.
Andrea Tedeschi
BERN. Ivan hat das Bundeshaus aufgemischt. Sein Fall steht exemplarisch für die aktuelle Praxis der Invalidenversicherung (IV), die der Nationalrat in zehn Tagen zugunsten der Versicherten ändern dürfte. Ivan, der in Wirklichkeit anders heisst, klagte gegen die aktuelle IV-Praxis bis vor Bundesgericht.
Denn etliche chronisch kranke und verunfallte Menschen wie er bekommen keine oder eine zu tiefe Rente, wie jüngst mehrere Studien folgerten, weil die errechnete Lohneinbusse gegenüber dem früheren Job oft zu klein ausfällt. Betroffen sind besonders Gering- und Normalverdiener. Der Grund: Die IV stützt sich auf falsche statistische Berechnungen, sogenannte LSE-Lohntabellen, und unterstellt körperlich und psychisch Beeinträchtigten, dass sie auf dem Arbeitsmarkt denselben Lohn wie ein gesunder Mensch erzielen können. Demnach soll der Lohnmedian für einen körperlich beeinträchtigen Mann ohne Berufserfahrung in der Versicherungsbranche 13 790 Franken pro Monat betragen, wie Christian Lohr, Thurgauer Mitte-Nationalrat und Initiant der Motion, im Rat vorrechnete. Unrealistisch sei das, sagte er.
Behindertenorganisationen, Rechtsprofessoren und Parlamentarier von links bis rechts kritisieren diese Berechnung seit Jahren. Trotzdem hat Bundesrat Alain Berset diese gegen massiven Widerstand per Verordnung auf Anfang dieses Jahres in Kraft gesetzt und will vorläufig bis 2025 an ihr festhalten. Der Schaffhauser SVP-Ständerat Hannes Germann warf dem Sozialminister vor, auf Kosten der Versicherten sparen zu wollen. Eine Korrektur würde das Bundesamt für Sozialversicherungen nach eigenen Angaben mindestens 300 Millionen Franken kosten.
Zickzackkurs des BSV
Das Bundesgericht lehnte Ivans Beschwerde im vergangenen Frühjahr ab und stützte damit den Kurs von Bundesrat Berset. Es sei an der Politik, einzugreifen. Und diese machte vorwärts. Die Sozialkommission des Nationalrats ist letzte Woche dem Ständerat gefolgt. Sie empfiehlt ihrem Rat einstimmig, Bundesrat Berset mit einer Kommissionsmotion zu zwingen, seine IV-Praxis bis Ende 2023 zu korrigieren. Dass der Nationalrat in der Wintersession Bersets Plan durchkreuzen dürfte, ist als Triumph des breiten Widerstands zu werten.
Auch fordern Sozialpolitiker und Sozialpolitikerinnen in der Motion ein Berechnungsmodell, an dem bereits gearbeitet wird. Eine hochkarätige Gruppe rund um Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht, und Urs Schwegler von der Paraplegiker-Forschung Nottwil hatten eine Methode entwickelt, die anders als heute die Leistungsfähigkeit beeinträchtigter Menschen auf reale berufliche Tätigkeiten hin eruieren und so den Anspruch auf eine IV-Rente präziser berechnen kann.
Seit Monaten sind Riemer-Kafka und Schwegler dabei, in einer Arbeitsgruppe des zuständigen Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) die Grundlagen für die körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen zu erstellen. Es sind tausende Tätigkeiten, die sie für die neuen Lohntabellen analysieren müssen. Riemer-Kafka sagt: «Die Arbeit ist aufwendig, aber wenn wir dranbleiben, sollte das technisch bis Ende 2023 zu schaffen sein. Die Anwendung ist jedoch anspruchsvoll.»
Ausgerechnet das BSV zweifelt diese Lösung nun an. Wie die SN aus gut informierten Quellen weiss, wirbt Bersets Departement in den Sozialkommissionen beider Räte für eine andere Berechnung. Das BSV wollte sich auf Anfrage dazu nicht äussern. Auch nicht, warum es eine andere Lösung einbringt.
Im vergangenen September sprach Berichterstatter Hannes Germann im Ständerat erstmals von einem alternativen «Korrekturmodell», das die Riemer-Kafka-Lösung ersetzen könnte. Dieses würde die Forderung des Parlaments erfüllen, sei aber wesentlich einfacher umzusetzen. Dennoch wollte der Ständerat mit 33: 4 Stimmen, bei vier Enthaltungen an der Motion festhalten. Bundesrat Berset sah das «Pauschalmodell» lediglich als vorübergehende Lösung, bis man ab 2025 die Lohntabellen korrigiert habe.
Auch unter den Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitikern im Nationalrat kommt die Offensive von Bersets Departement nicht gut an. «Die Pauschallösung ist ein Versuch des BSV, eine andere Lösung zu implementieren», sagt Barbara Gysi, St. Galler SP-Nationalrätin. Sie hält fest: «Die Korrektur muss nach der Berechnung von Riemer-Kafka umgesetzt werden, so wie es die Motion verlangt.» Ihr Ratskollege Christian Lohr sagt: «Ein Alternativvorschlag ist weder von der Kommission initiiert noch gewünscht.» Im Ständerat sagt Hannes Germann: «Wir erwarten, dass der Bundesrat die Methode Riemer-Kafka umsetzt, und zwar rasch.»
Die Behindertenorganisationen sind skeptisch. Alex Fischer, Leiter Politik von Procap, sagt: «Pauschalabzüge sind nur dann eine Option, sofern die Korrektur auf empirischen Grundlagen basiert und das tatsächliche Lohnniveau von Versicherten mit einer Invalidität erreicht.»
Pauschale «ist besser als nichts»
Die Idee eines Pauschalabzugs ist nicht neu. Thomas Gächter ist Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich. Er stellte mit weiteren Juristen vor zwei Jahren in einem Rechtsgutachten fest, dass Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt rund 14 bis 17 Prozent weniger verdienen, als die Lohntabellen vorgeben und worauf sich die IV stützt. Damals hatte Gächter vorgeschlagen, die zu hohen Lohntabellen mit einem Pauschalabzug zu korrigieren, es brauche jedoch eine verfeinerte Methode. Jene von Riemer-Kafka lag damals noch nicht vor. «Wir haben den Pauschalabzug als Provisorium vorgeschlagen. Das BSV will die Lösung jedoch dauerhaft einführen», sagt Gächter. «Ein Pauschalabzug wäre gegenüber heute besser als nichts und praktikabler. Ein System nach der Berechnung von Riemer-Kafka ist jedoch präziser und näher an dem, was das Gesetz beabsichtigt.»
Pauschale macht höhere Renten
Nicht bestätigt ist, wie hoch das BSV den Pauschalabzug ansetzen will. Dem Vernehmen nach soll er jedoch tiefer sein als die im Rechtsgutachten vorgeschlagenen 14 bis 17 Prozent. SP-Nationalrätin Barbara Gysi sagt dazu lediglich: «Mit den vom BSV vorgeschlagenen Pauschalabzug würden die Tabellenlöhne zu hoch bleiben und die Berechnung nicht zugunsten der Versicherten korrigiert.»
Auf die Pauschallösung angesprochen, sagt Gabriela Riemer-Kafka. «Ein Pauschalabzug ist letztlich genauso so ungenau wie die LSE-Lohntabellen, worauf sich die IV heute stützt.» Wie stark die LSE-Tabellenlöhne nach unten korrigiert werden müssten, hänge von der Gesundheitseinschränkung, der Tätigkeit und anderen Faktoren wie Qualifikationen ab. «Es hat sich gezeigt, dass die Korrektur der LSE-Lohntabellen mit unserer Methode teilweise sogar kleiner ausfallen könnte als der vorgeschlagene Pauschalabzug ab 14 Prozent», sagt Riemer-Kafka. Sie schliesst deshalb nicht aus, «dass eine Pauschallösung in jedem Fall zu einer Rentenerhöhung führen könnte.»