[Schaffhauser Nachrichten] Die Schweiz sitzt am Tisch der Mächtigen

20 Jahre nach dem Beitritt in die UNO wählte gestern die Generalversammlung die Schweiz in eines der mächtigsten Gremien der Welt: den UNO-Sicherheitsrat. Damit entscheidet unser Land mit über den Weltfrieden. Ist das mit der Neutralität vereinbar?

Christoph Bernet

Freudentag in New York: Aussenminister Ignazio Cassis beim Medientermin, mit der Broschüre zur Schweizer Kandidatur. BILD KEY

1 Was sind die Konsequenzen dieser Wahl?

Ab Januar 2023 wird die Schweiz während zweier Jahre als eines von zehn nicht ständigen Mitgliedern Teil des UNO-Sicherheitsrats sein, dem insgesamt 15 Staaten angehören. Die Schweiz nimmt einen der zwei Sitze ein, die der Gruppe der westeuropäischen und anderen Staaten zustehen. Den anderen Sitz dieser Gruppe wird Malta besetzen. Die zehn nicht ständigen Mitglieder gesellen sich zu den fünf stän­digen Mitgliedern USA, Russland, China, Grossbritannien und Frankreich, auch P5 genannt.

2 Welche Rechte hat die Schweiz im UNO-Sicherheitsrat?

Die Schweiz nimmt an jeder Sitzung des Sicherheitsrats teil. Sie erhält bei jeder Debatte das Recht, sich zu äussern, und verfügt über das volle Stimmrecht. Im Gegensatz zu den fünf ständigen Mitgliedern hat sie allerdings kein Vetorecht. Im Mai 2023 wird die Schweiz turnusgemäss für einen Monat die Präsidentschaft des UNO-Sicherheitsrats übernehmen. Die Schweizer Vertreterin wird dann die Sitzungen leiten und ist für die Traktandenliste und das monatliche Arbeitsprogramm des Rats zuständig.

3 Was tut der UNO-Sicherheitsrat?

Seine Hauptaufgabe ist die «Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit». Die Charta der UNO gibt dem Sicherheitsrat das Recht, jede Situation zu untersuchen, die zu internationalen Spannungen führt. Stellt er fest, dass eine Si­tuation die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte, kann er mit einer Reihe von Werkzeugen reagieren. Diese reichen von einer einfachen Erklärung über die Beratung oder Mediation bis hin zu rechtsverbindlichen Beschlüssen in Form von Resolutionen. Der Sicherheitsrat kann darüber hinaus den Internationalen Strafgerichtshof mit der Untersuchung von mutmasslichen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Genozid beauftragen. Oder er kann Sondertribunale schaffen, wie er das beispielsweise für Ruanda oder Ex-Jugoslawien tat. Resolutionen des Sicherheitsrates sind für die UNO-Mitgliedsstaaten bindend. Damit kann der Sicherheitsrat beispielsweise Sanktionen erlassen oder das Mandat für eine friedenserhaltende Operation erlassen. Im Rahmen eines solchen Mandats haben Blauhelmsoldaten im Auftrag der UNO ebenfalls das Recht, unter gewissen Bedingungen militärische Gewalt anzuwenden. Aktuell sind zwölf Friedensoperationen mit 87 000 Blauhelmsoldaten am Laufen. Als Ultima Ratio kann der Sicherheitsrat auch eine militärische Intervention autorisieren. Er hat das in seiner 77-jährigen Geschichte bisher dreimal getan: im Koreakrieg 1950–1953, im ersten Golfkrieg 1990/91 und in Libyen im Jahr 2011.

4 Wie entscheidet der ­Sicherheitsrat?

In der Öffentlichkeit wird vor allem von ­jenen Debatten Notiz genommen, bei denen im Sicherheitsrat heftig gestritten wird. Doch Tatsache ist: In den allermeisten Fällen entscheidet der Sicherheitsrat im Konsens. Im Jahr 2019 etwa verabschiedete er 52 Resolutionen, davon 42 einstimmig. Bei Resolutionen braucht es die Zustimmung von mindestens 9 der 15 Mitgliedsstaaten. Stimmt eines der ständigen Mitglieder dagegen, ist der Beschluss abgelehnt (Vetorecht). Zwischen 2015 und 2019 war dies durchschnittlich drei- oder viermal pro Jahr der Fall. Das Vetorecht hat jedoch eine starke indirekte Wirkung. Bereits die Androhung eines Vetos reicht, dass ein Vorschlag gar nicht erst in den Rat kommt.

5 Bedeutet die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat das Ende der Schweizer Neutralität?

Ja, findet die SVP. Sie hatte mehrmals versucht, die vom Bundesrat in eigener Kompetenz beschlossene Kandidatur auszubremsen. Gestern posierte die SVP-Fraktion vor dem Bundeshaus mit einem Banner mit dem Bildnis von Niklaus von Flüeh («Bruder Klaus»). Mit der Einsitznahme im Sicherheitsrat sei die Schweiz «definitiv Kriegspartei» geworden. Die anderen Parteien seien Totengräber der Neutralität. Zu einem anderen Schluss kommt der Bundesrat. In einem Bericht hielt er 2015 fest, dass die Neutralität der Schweiz kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur Erreichung ihrer Ziele sei. Dazu gehöre «die Wahrung der eigenen Unabhängigkeit und Sicherheit» und «eine gerechte und fried­liche internationale Ordnung». Dieses Ziel entspreche jenem der UNO-Charta, an der sich der Sicherheitsrat zu orientieren habe. Die Erfahrung anderer neutraler Staaten zeige, dass diese nie aufgrund ihrer Neu­tralität dazu veranlasst waren, sich zu enthalten oder gegen eine Resolution zu stimmen: «Daraus kann gefolgert werden, dass weder die Glaubwürdigkeit der Neutralität Schaden nimmt, noch ein aktives Enga­gement im Sicherheitsrat infrage gestellt wäre.»

6 Muss die Schweiz jetzt Blauhelmsoldaten stellen?

Auch bezüglich friedenserhaltender Missionen oder vom Sicherheitsrat autorisierter militärischer Interventionen gab der Bundesrat Entwarnung: Die Schweiz müsste solchen Resolutionen als Mitglied des Sicherheitsrats weder automatisch zustimmen noch erwachse eine Verpflichtung, sich mit Soldaten daran zu beteiligen. Bereits heute ist die Schweizer Armee im ­Rahmen von UNO-Mandaten an friedenssichernden Missionen beteiligt, beispielsweise im Kosovo.

7 Wer entscheidet, wie die Schweiz im Sicherheitsrat abstimmt?

Diese Frage hat im Parlament ebenfalls zu reden gegeben. Der Bundesrat hielt fest, dass ein ständiger Miteinbezug des Parlaments nicht realistisch sei. Aufgrund der hohen Kadenz und Komplexität der Entscheidungen sei rasches Handeln notwendig. Teilweise müssten Entscheide innerhalb von 24 Stunden getroffen werden. 2019 hielten der Sicherheitsrat und seine Nebenorgane rund 800 Sitzungen ab, was drei bis vier Treffen pro Tag entspreche. Dafür müsse man sich inhaltlich vorbereiten, ­innerhalb und zwischen den Departementen koordinieren, mit Partnern absprechen und zeitgerecht Instruktionen zuhanden der Schweizer UNO-Mission in New York abgeben. Doch der Bundesrat will die Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments regelmässig informieren und bei Bedarf konsultieren. Die Entscheidkompetenz verbleibt jedoch beim Bundesrat. Entscheidungen von grösserer Tragweite will der Gesamtbundesrat vorbesprechen.

8 Was sind die Ziele der Schweiz im Sicherheitsrat?

Die Schweizer Kandidatur stand unter dem Motto «Ein Plus für den Frieden». Als Prioritäten der Mitgliedschaft hat der ­Bundesrat die nachhaltige Friedensförderung, den Schutz der Zivilgesellschaft, das Thema Klimasicherheit sowie die Stärkung der Effizienz, Transparenz und Rechenschaftspflicht des Sicherheitsrats festgelegt.

9 Und wer setzt sich für die Schweiz an den Tisch?

Im Normalfall wird UNO-Botschafterin ­Pascale Baeriswyl die Schweiz im Sicherheitsrat vertreten. Wegen der grossen Arbeitslast wird sie teilweise auch von ihren Stellvertretern abgelöst. Bei Sitzungen von besonderem Interesse oder grosser Brisanz ist dazu auch denkbar, dass Aussenminister Ignazio Cassis oder der Bundespräsident die Schweiz vertreten wird. Im Jahr 2023 wäre das voraussichtlich Bundesrat Alain Berset.

Das sagen die Schaffhauser Bundesparlamentarier zur Wahl der Schweiz

«Die Erfahrung anderer bündnisfreier Staaten zeigt zwar, dass sich der nicht ständige Sitz im Sicherheitsrat mit der Neutralität unter einen Hut bringen lässt. Aber es ist eine schwierige Gratwanderung, und ich hätte ­gerade vor dem ­Hintergrund des ­Ukraine-Krieges auf den Beitritt verzichtet.»

Hannes Germann
Ständerat Schaffhausen (SVP)

«Wer die Hoffnung schürt, dass die Schweiz nun in der Welt Einfluss nehmen wird, liegt falsch. Wir sollten unsere Neutralität wahren. Gerade ­sicherheitspolitisch könnte die Wahl in ­Zusammenhang mit dem jetzigen Krieg ­heikel sein. Aus meiner Sicht wird die Wahl überbewertet.»

Thomas Hurter
SVP-Nationalrat Schaffhausen

«Ich freue mich über diesen historischen Moment. Die Schweiz leistet damit einen substanziellen Beitrag für den Frieden und den Multilateralismus. Ich unterstütze diese Strategie der Schweiz im Sinne einer aktiv gelebten Neutralität. Die Schweiz nimmt dort Einfluss, wo Wichtiges entschieden wird.»

Martina Munz
SP-Nationalrätin Schaffhausen

«Der Beitritt der Schweiz in den UNO- Sicherheitsrat ist einer der gröberen Fehlentscheidungen in der Schweizer Aussen­politik. Zuerst müsste man die Neutralitätspolitik klarer regeln. Das zeigt sich insbesondere jetzt während des russischen ­Angriffskrieges in der Ukraine.»

Thomas Minder
Parteiloser Ständerat Schaffhausen