Schaffhauser Nachrichten: «Eine Umverteilung zu Lasten der Jungen»

Am 30. November wird über die Gewerkschaftsinitiative «Für ein flexibles AHV-Alter» abgestimmt: Arbeitnehmer mit einem Einkommen bis zu 120 000 Franken sollen ab 62 Jahren in Pension gehen können – ohne Kürzung der AHV-Rente. SVP-Ständerat Hannes Germann und SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr über Vor- und Nachteile der Initiative.

von Doris Kleck und Patrick Steinemann

Herr Germann, entspricht es Ihrem Gerechtigkeitsempfinden, dass jemand, der körperlich schwer arbeitet, mit einem Einkommen von 60 000 Franken bei einer Frühpensionierung die gleiche Rentenkürzung hinnehmen muss wie beispielsweise ein Arzt, der 150 000 Franken pro Jahr verdient? 

Hannes Germann: Nein. Ich fände es absolut angemessen, wenn man Menschen in Berufen, die mit körperlich harter Arbeit verbunden sind, eine Frühpensionierung ermöglichen würde. Es gibt ja einen solchen branchenspezifischen Ansatz auf dem Bau. Ich könnte mir auch staatliche Ansätze vorstellen. Diese müssten aber über die Lebensarbeitszeit realisiert werden, denn in diesen Berufen steigt man früh ins Erwerbsleben ein und zahlt dementsprechend lange Beiträge in die AHV-Kasse ein. Wenn man eine Bemessung nach den Beitragsjahren finden würde, dann wäre eine Flexibilisierung des Rentenalters finanzierbar. Die Überlegungen betreffend AHV müssen in Richtung Flexibilisierung gehen, doch solche Massnahmen müssen auch den richtigen Leuten helfen, und dem wird die Initiative nicht gerecht.

Sie würden den Vorwurf unterschreiben, dass Frühpensionierungen ein Privileg von Besserverdienenden sind? 

Germann: Ja, das ist heute der Fall. Aber daran ändert die Initiative nichts. Faktisch wird damit einfach das Rentenalter von 65 auf 62 Jahre herabgesetzt, und das müssten alle bezahlen.

Herr Fehr, Ihr Kontrahent spricht sich grundsätzlich für eine Flexibilisierung aus, sagt aber, von dieser Initiative würden nicht die Richtigen profitieren. 

Hans-Jürg Fehr: Die Initiative ist der einzige konkrete Vorschlag, der zur Flexibilisierung des Rentenalters vorliegt. Wir stimmen nun über diese Initiative ab, und sie packt den heiklen Punkt an: Eine Frühpensionierung hängt von der Grösse des Portemonnaies ab. Die Initiative hilft denjenigen, die aufgrund ihres beruflichen Werdeganges eine Frühpensionierung zwar am nötigsten haben, sich diese wegen ihres niedrigen Einkommens aber nicht leisten können. Die Initiative ist sehr zielgenau. Von der ungekürzten Rente ab 62 Jahren können nur Erwerbstätige mit einem Einkommen bis zu 120 000 Franken pro Jahr profitieren. Das sind die kleinen und mittleren Einkommen.

Sind 120 000 Franken pro Jahr für Sie tatsächlich kleine und mittlere Einkommen? 

Fehr: Leute mit 120 000 Franken Einkommen pro Jahr gehören zum Mittelstand, ganz klar. Bei der Konstruktion der Initiative war es ganz wesentlich, dass sich der Grossteil der Abstimmenden angesprochen fühlt. Entscheidend ist, dass in erster Linie die 50 bis 60 Prozent der Erwerbstätigen, die ich zur Gruppe mit kleinen Einkommen zähle, von der Initiative profitieren.

Bei Annahme der Initiative können 90 Prozent der Erwerbstätigen ab 62 Jahren mit einer ungekürzten Rente in Pension gehen. Die Initiative führt also zur Senkung des Rentenalters. 

Fehr: Wir wissen nicht, wer aufgrund der Initiative tatsächlich von der Frühpensionierung Gebrauch machen wird, denn es gibt ja auch Rentenausfälle bei der zweiten Säule. Das ist eine echte Bremse, und sie wird verhindern, dass das Rentenalter generell auf 62 Jahre sinken wird.

Wie matchentscheidend ist denn die AHV überhaupt, wenn man sich überlegt, frühzeitig in Rente zu gehen? 

Germann: Das ist schwierig zu beurteilen. Sicher ist, je tiefer das Einkommen, desto wichtiger ist die AHV. Deshalb glaube ich auch, dass die Initiative den falschen Fokus hat, denn der Erwerbstätige mit einem niedrigen Einkommen erreicht kaum je die AHV-Maximalrente. Wie soll ausgerechnet er sich dann die Einbusse bei der Pensionskasse, also der zweiten Säule, leisten können? Die Frühpensionierung können sich Wenigverdienende auch bei Annahme dieser Initiative kaum leisten, dagegen noch mehr Besserverdienende. Oder anders gesagt: Wenn man 90 Prozent der Erwerbstätigen mit der Initiative erfasst, schiesst man übers Ziel hinaus. Man zielt an denjenigen vorbei, die wirklich Erleichterungen bräuchten. Bei einem Jahreseinkommen von 120 000 Franken braucht es wahrlich keinen Zusatzanreiz für eine teure Frührente. Fehr: Man muss die Situation richtig sehen. Heute gibt es zwei Einbussen, wenn jemand vorzeitig in den Ruhestand geht: einerseits bei der AHV und andererseits bei der Pensionskasse. Die Initiative würde die Renteneinbusse bei der AHV beseitigen. Also ist sie für diejenigen, die sich überlegen müssen, ob sie sich eine Frühpensionierung leisten können oder nicht, eine echte Verbesserung. Der Nachteil bei der zweiten Säule wird zwar durch die Initiative nicht beseitigt. Doch gemessen am Status quo ist das eine klare Verbesserung.

Aber sind es tatsächlich diejenigen Erwerbstätigen mit niedrigen Einkommen, die sich eine Frühpensionierung leisten können? 

Fehr: Wir wissen einfach, dass sie es sich jetzt nicht leisten können, obschon sie eine viel geringere Lebenserwartung haben und obschon sie es aufgrund ihres gesundheitlichen und psychischen Zustandes nötig hätten. Und wir wissen auch, dass diejenigen, die es sich leisten können, tatsächlich in die Frühpension gehen – in wachsendem Ausmass. Da braucht es einfach mehr Chancengleichheit. Germann: Tendenziell lassen sich die Erwerbstätigen mit einem höheren Einkommen frühzeitig pensionieren. Dieser Trend wird sich mit der Initiative nicht umkehren. Die Initiative führt zu Ausfällen von 1,5 Milliarden Franken für die AHV. Dieses Geld muss von jemandem aufgebracht werden. Und das sind eben gerade die jungen Familien, die schon heute kämpfen müssen. Wir müssen schauen, dass wir diese Familien nicht in die Abhängigkeit von Sozialwerken führen. Sie brauchen das Geld, wenn sie Kinder haben, welche in die Schule gehen oder eine Ausbildung absolvieren.

Die Initiative kostet zwischen 800 Millionen und 1,5 Milliarden Franken, je nachdem, ob man von einem Frauenrentenalter von 65 Jahren ausgeht oder nicht. Die Initiative regelt aber die Finanzierung nicht. Was schlagen Sie vor, Herr Fehr? 

Fehr: Wir alle wissen, dass das Frauenrentenalter 65 mit der elften AHV-Revision kommen wird. Deshalb gehe ich von Kosten von 800 Millionen Franken aus. Woher kommt das Geld? Unsere Seite hat mehr als einen Vorschlag gemacht, wie man mehr Geld für die AHV beschaffen kann. Die Kosa-Initiative ist am Widerstand der Bürgerlichen gescheitert … Germann: … ihr wollt auch Geld an allen Orten verteilen … Fehr: … wenn man diesen Vorschlag angenommen hätte, dann wäre die Initiative bereits finanziert. Jetzt fordere ich in einer parlamentarischen Initiative eine Sozialabgabe von fünf Prozent auf Dividenden. Wir hätten damit die Initiative finanziert, doch auch das wird von der bürgerlichen Seite abgelehnt. Also steht nun eine Erhöhung der Lohnprozente für die AHV im Vordergrund. Das sind je 0,15 Prozent für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Germann: Für mich negiert die Initiative offensichtliche Entwicklungen. Wir wissen, dass die AHV bis ungefähr 2013 gut funktioniert – dann beginnt es aber zu kippen. Es ist Realität, dass immer weniger Erwerbstätige die AHV für immer mehr Rentner bezahlen müssen. Mit der Initiative wird das System der AHV auf fatale Art und Weise übersteuert. Die Leute werden zwar immer älter, doch die Pensionierung soll früher erfolgen. Wenn schon Flexibilisierung, dann auf der Basis eines Rentenalters von 65 Jahren. Damit kämen wir zurecht, obschon auch dies Zusatzgelder brauchen würde. Mit der Initiative machen wir eine Umverteilung zu Lasten der künftigen Generationen. Das ist Egoismus pur. Wir sollten den Generationenvertrag nicht noch mehr ausreizen.

Herr Fehr, sind Sie egoistisch? 

Fehr: Herr Germann hat nur eine Seite des Generationenvertrages angesprochen, es gibt aber noch eine zweite Seite, diejenige der Verteilung der Arbeit. Wenn die älteren, teuren Arbeitnehmer vorzeitig in Pension gehen, dann machen sie Platz für jüngere Erwerbstätige. Für die Arbeitgeber könnte die Initiative durchaus ein interessantes Geschäft sein, sie müssten dann nämlich AHV- und Pensions- kassenbeiträge auf viel tieferen Einkommen bezahlen.

Zur demographischen Entwicklung: Herr Fehr, Sie können nicht ignorieren, dass im Moment 3,7 Erwerbstätige für einen Rentner aufkommen, und bald wird das Verhältnis nur noch 2:1 sein. 

Fehr: Die demographische Prognose ist relativ klar. Weniger klar abzuschätzen ist die Migration. Das ist aber ein Faktor, der für die Schweiz nicht unwesentlich ist. Trotzdem kann es einmal sein, dass aus diesen demographischen Gründen zusätzliche Kosten auf die AHV zukommen, die wir durch Lohnsummenwachstum nicht mehr auffangen können. Das streite ich nicht ab. Aber wir wissen nicht, wann dieser Moment eintreffen wird. Alle vom Bundesamt für Sozialversicherung und von den Bürgerlichen bisher vorgebrachten Prognosen waren grundfalsch. Hätten ihre Zahlen gestimmt, wäre die AHV längst bankrott. Sie haben für dieses Jahrzehnt Jahr für Jahr Defizite von ein bis zwei Milliarden Franken vorhergesagt. Das Gegenteil ist eingetroffen. Die AHV hat in den letzten sieben Jahren zwölf Milliarden Franken vorwärtsgemacht … Germann: … das waren auch sieben fette Jahre … Fehr: … trotzdem, wir haben das Geld. Ich bin gegen Schwarzmalerei, aber es ist möglich, dass die AHV einmal zusätzliches Geld brauchen wird. Deshalb hatten wir auch die Nationalbankgold-Initiative lanciert. Ich möchte offenlassen, wann die AHV mehr Geld braucht. Ich plädiere aber für zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten, und ich möchte die Arbeit und den Konsum nicht zusätzlich belasten, wenn es eine andere Möglichkeit gibt. Wenn es auf mich ankommt, werden die demographisch bedingten Mehrkosten durch eine Solidaritätsabgabe auf Dividenden finanziert. Germann: Ich staune über diesen Optimismus. Bereits 2004 haben wir über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV und der IV abgestimmt. Schon damals hat man kundgetan, dass Handlungsbedarf besteht. Man darf die Realität nicht ausblenden. Und die Jungen müssen wissen, worauf sie sich einlassen: Sie werden erheblich mehr bezahlen müssen für die Leute im Ruhestand. Fehr: Das ist falsch. Man darf nicht sagen erheblich mehr, wenn es 0,15 Prozent höhere Lohnanteile sind, die der Arbeitnehmer im Falle einer Annahme der Initiative bezahlen muss, also 20 Rappen pro Tag. Germann: Aber es ist doch absehbar: Ab 2035 zahlen nur noch zwei Erwerbstätige die Rente eines Pensionierten. Fehr: Dann reden wir doch über Zusatzmittel, wenn es nötig ist.

Herr Germann sagt, es wird ein falsches Zeichen gesetzt, wenn man ab 62 Jahren mit ungekürzter Rente in Pension gehen kann. Die OECD sagt uns ab 2035 einen Arbeitskräftemangel voraus. 

Fehr: Die reale Situation ist doch so, dass man ab 50 oder 55 Jahren extrem Mühe hat, wieder Arbeit zu finden, wenn man die Stelle verloren hat … Germann: … das hat mit einem falschen Lohnsystem zu tun … Fehr: … die über 55-Jährigen sind da, man muss dieses Potential ausschöpfen. Diese Leute wollen nicht in Rente gehen oder arbeitslos werden. Diese Leute wollen arbeiten, und wenn man sie arbeiten lässt, dann würden sie einen grossen Teil der AHV-Beiträge bezahlen, die man für die Finanzierung der AHV in der Zukunft brauchen wird. Auch das Erwerbspotential der Frauen muss man besser ausschöpfen. Germann: Das setzt aber auch immer Beschäftigung voraus. Und mit höheren Lohnnebenkosten vernichten wir Arbeitsplätze, das ist die Realität. Wer zu teuer produziert, der wird langfristig nicht mehr produzieren. Es stimmt, für jemanden, der mit 58 Jahren seine Arbeit verliert, ist es schwierig, eine neue Stelle zu finden. Das hat etwas Unwürdiges an sich. Doch es hängt zum Teil auch mit einem falschen Lohnsystem zusammen: je älter, desto höher der Lohn. Den höchsten Lohn braucht man aber in jenem Lebensabschnitt, in dem man Kinder in der Schule oder in der Ausbildung hat.