[Schaffhauser Nachrichten] Gemeinden wollen im Kanton mehr mitreden

Ein Gemeindemehr könnte den Kommunen mehr politischen Einfluss geben. Kritiker sprechen indes von einer «Tyrannei der Minderheit». Eine Alternative – auch für Schaffhausen – könnte ein Gemeindereferendum sein, wie es Zürich schon kennt.

Reto Zanettin

Rund 53 000 Schaffhauserinnen und Schaffhauser können über kantonale Vorlagen abstimmen. Ein Gemeindemehr ist ¬zurzeit nicht erforderlich. BILD MELANIE DUCHENE

SCHAFFHAUSEN. Was haben sich die Befürworter der Konzernverantwortungsinitiative (KVI) echauf­fie­rt. 50,7 Prozent des Stimmvolks wollten Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden haftbar machen. Gescheitert war die KVI schliesslich am Ständemehr. Dieses sei ein alter Zopf und eine Gefahr für Minderheiten, wetterte der frühere Nationalrat der Grünen Josef Lang. Und Juso-Chefin Ronja Jansen hätte die Föderalismusinstitution am liebsten auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Eine Lanze für das Ständemehr brach hingegen Claudio Kuster, Stiftungsrat der Stiftung für direkte Demokratie, in den SN: «Gäbe es das Ständemehr nicht, könnten die fünf grössten Kantone den anderen 21 eine Verfassung aufzwingen.» Das gehe nicht.

In konkrete Politik gegossen wurde die Diskussion erst ansatzweise. Im Parlament hängig ist eine Initiative von Grünen-Präsident Balthasar Glättli, die ein qualifiziertes Ständemehr verlangt.

Parallel zur Debatte um das Ständemehr ging die Diskussion um die Mitwirkung der Gemeinden an der Kantonspolitik los. Neben dem Volksmehr soll zusätzlich das Gemeindemehr über den Abstimmungsausgang entscheiden. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden haben sich Urnäsch und Stein dafür eingesetzt. Hintergrund ist die Volks­initiative «Starke Ausserrhoder Gemeinden» respektive der Gegenvorschlag dazu. Die Kantonsregierung möchte die Zahl der Gemeinden von 20 auf 4 reduzieren. Somit bestehe die Gefahr, dass wenige grosse Orte – etwa Herisau, Teufen und Speicher – über die kleinen, ländlichen Gemeinden bestimmten, heisst es in einer Stellungnahme des Urnäscher Gemeinderates.

Verfassungsmässigkeit ist fraglich

Was im Appenzeller Hinterland Sorgen bereitet, beschäftigt auch Hannes Germann, Schaffhauser SVP-Ständerat und Präsident des Schweizerischen Gemeindeverbandes: «Viele Entscheide der Kantone haben Konsequenzen für die Gemeinden und ihre Finanzen, beispielsweise im Sozialwesen.» Deswegen brauche es eine politische Mitsprache der Gemeinden. Bei der Covid-Gesetzgebung seien zwar Arbeitgeber und Gewerkschaften angehört worden, nicht aber die Gemeinden. «Diese Bevorzugung der Sozialpartner gegenüber den Kommunen darf einfach nicht sein.» Die Gemeinden hätten aufgrund der hohen Betroffenheit direkt konsultiert werden müssen, sagt Germann. «Denn dort findet das kulturelle Leben statt, dort gehen die Kinder zur Schule oder in die Kitas.»

Verständnis für die Gemeinden zeigt Claudio Kuster. Er hält das Gemeindemehr aber für nicht vereinbar mit der Bundesverfassung. «Sie besagt, dass die Mehrheit der Stimmberechtigten die Kantonsverfassung ändern können muss. Weitere Erfordernisse sind nicht erlaubt.» Die Frage nach der Verfassungsmässigkeit ist relevant. Denn ein Gemeindemehr könnte nur in die Kantonsverfassung eingefügt werden, wenn der Bund dafür seinen Segen gibt. Dabei darf das kantonale Recht dem Bundesrecht nicht zuwiderlaufen. So will es die Landesverfassung.

Anders als Kuster bezeichnete der Staatsrechtsprofessor Andreas Kley von der Universität Zürich die Diskussion als ausgesprochen offen. «Jeder Kanton gibt sich eine demokratische Verfassung», lautet die Bundesverfassung. Gemäss Kley bleibe damit offen, ob neben dem Volksmehr zusätzliche Abstimmungsregeln wie das Gemeindemehr eingeführt werden dürften, wie er ge-genüber dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF sagte.

Stadt und Land: Wer wiegt mehr?

«In Abstimmungen sollte jeder Stimmzettel das gleiche Gewicht haben», hält Kuster fest. Es könne nicht sein, dass ­Gemeinden wie Buch, Bargen oder ­Büttenhardt die Städte Schaffhausen und Neuhausen überstimmen. In Zahlen ausgedrückt, präsentieren sich die Verhält­nisse so: Abstimmen dürfen in Schaffhausen gut 53 000 Personen. Die 14 kleinsten Gemeinden könnten eine Vorlage versenken, obwohl sie nur knapp 6000 Stimmberechtigte zählen. Somit könnten 11 Prozent sagen, wo es lang geht. «Dies wäre eine krasse Begünstigung der kleinen Gemeinden», sagt Kuster. Er spricht von einer «Tyrannei der Minderheit».

Germann wiederum sagt: «Das Gemeindemehr würde das grosse Stimmengewicht der Städte beim Volksmehr ausgleichen.» Auch zu diesem Argument gibt es Fakten. Die Städte Schaffhausen und Neuhausen stellten per 13. Juni 54,3 Prozent der Stimmberechtigten. Die Landgemeinden könnten einem geschlossenen Ja der Zentren nichts entgegensetzen. Illustriert hat dies der Urnengang vom August 2020: 50,3 Prozent der Schaffhauser stimmten für den Erwerb von zwei Obergeschossen in der Kammgarn durch den Kanton, um den Einzug der Pädagogischen Hochschule zu ermöglichen. Die Stadt Schaffhausen steuerte 7736 zu den 15 483 Ja-Stimmen bei. 22 Gemeinden, welche die Vorlage ablehnten, unterlagen. Oder anders gesagt: Die Kommunen hätten das Gemeindemehr benötigt, um den Volksentscheid zu kippen.

«Es braucht keinen Ausgleich zum Volksmehr. Wenn in Buch hundertmal weniger Leute leben als in Schaffhausen, ist das ein Fakt, der am Grundsatz ‹Ein Mensch, eine Stimme› nichts ändern sollte», sagt Kuster. Jede zusätzliche Hürde verschiebe das Stimmengewicht zugunsten der einen und zulasten der anderen. Die Bundesverfassung erlaube das zu Recht nicht.

Die Wirkung an der Abstimmung ist das eine. Germann sieht noch etwas anderes: «Ein Gemeindemehr hätte auch eine präventive Wirkung, sodass die Gemeindeinteressen bereits im kantonalen Gesetzgebungsprozess gebührend berücksichtigt würden.» Dass die Anliegen der Kommunen im Schaffhauser Parlament Gehör finden, hält Kuster für realistisch, zumal nicht wenige Kantonsräte auch Mitglieder von Gemeindeexekutiven sind. «Wenn sie sich zusammenschliessen, können sie effektiv die Gemeindeinteressen auf kantonaler Ebene geltend machen.»

Referendum als Alternative

Wie die institutionelle Mitsprache der Gemeinden auf Kantonsebene im Einzelnen ausgestaltet sein könnte, lässt Germann offen. «Jedenfalls so, wie die Kantone über das Ständemehr und das Kantonsreferendum auf Bundesebene mitwirken, sollen die Gemeinden auf Kantonsebene in wichtigen Angelegenheiten mitreden können.» Was wichtig sei und was nicht, könnten die Kantone selbst festlegen.

Germann und Kuster halten neben dem Gemeindemehr das Gemeindereferendum für prüfenswert. Ein solches kennt der Kanton Zürich. 12 Politische Gemeinden zusammen, die Stadt Zürich oder die Stadt Winterthur können eine Volksabstimmung verlangen. «In Schaffhausen könnten zum Beispiel fünf Gemeinden zusammen oder die Stadt Schaffhausen allein ein Veto gegen kantonale Gesetze und Finanzvorlagen einlegen», erklärt Kuster. An der Urne selbst würde jedoch nach wie vor einzig das Volksmehr entscheiden. Einen Vorteil hätten die Gemeinden dennoch: «Als Referendumsführer wären sie an vorderster Front im Abstimmungskampf.» Im Abstimmungsbüchlein könnten sie ihre­ ­Argumente darstellen, in den Medien wären sie ebenfalls präsent. «Damit wächst ihr Einfluss.»

Germann erinnert an einen Vorstoss in Bundesbern, der das Gemeinde­referendum auf eidgenössischer Ebene einführen wollte. 200 Gemeinden aus 15 Kantonen hätten einen Urnengang herbeiführen können. Die Idee hatte allerdings keine Chance. Der Nationalrat stimmte in der Herbstsession 2018 mit 126 zu 51 Stimmen dagegen.

Heute wäre laut Germann weder das Gemeindemehr noch das Gemeindeveto mehrheitsfähig. «Es bräuchte wahrscheinlich einen besonders störenden Fall, in dem die Gemeinden übergan-gen wurden, um das Anliegen beliebt zu machen. Die Covid-Gesetzgebung könnte ein Auslöser sein.»