Schaffhauser Nachrichten: «Gewissen Richtern fehlt es an Sensibilität»

Ob Tierschutzanwälte schon bald in allen Kantonen tätig sein sollen, entscheiden die Stimmenden am 7. März. Im SN-Streitgespräch duellieren sich zu dieser Frage Heinz Lienhard, Präsident des Schweizer Tierschutzes (STS), und SVP-Ständerat Hannes Germann. Während Lienhard auf bessere Rechtsmittel hofft, fürchtet Germann höhere Kosten.

von Adrian Schumacher und Hans Wicki

Die schweizerische Tierschutzgesetzgebung ist schon heute eine der strengsten weltweit. Warum braucht es da noch einen besonderen Tieranwalt?
Heinz Lienhard: Wir haben heute tatsächlich ein Tierschutzgesetz, das sich im internationalen Vergleich wieder sehen lassen kann. Darum geht es uns mit dem Tierschutzanwalt aber nicht. Verstösse im Bereich Tierschutz werden seit Jahrzehnten als Kavaliersdelikte behandelt. Daran hat auch die Gesetzesrevision nichts geändert. Mit Hilfe eines cleveren Anwalts wurden schon Täter freigesprochen, die ihre Katze im Lavabo ersäuft hatten. Hannes Germann: Sie vergessen, dass das revidierte Tierschutzgesetz erst seit einem Jahr in Kraft ist. Noch haben wir kaum Erfahrungen sammeln können. Schon bei der Beratung des Gesetzes wurde vergeblich versucht, den Tieranwalt auf Gesetzesstufe einzubringen. Dass man jetzt verlangt, diese Institution landesweit einzurichten, grenzt in meinen Augen an Zwängerei. Persönlich orte ich beim Vollzug keine Probleme, auch wenn ich mir strengere Strafen für Tierquäler wünschen würde. Denn da gehe ich mit Ihnen einig: Hier handelt es sich nicht um Kavaliersdelikte.

Wie weit ist die Initiative dem Umstand geschuldet, dass Tiere den Menschen quasi ans Herz gewachsen sind? 
Lienhard: Mittlerweile gelten Tiere zwar nicht mehr als Sachen, vermenschlichen wollen wir sie aber trotzdem nicht. Im Rahmen einer repräsentativen Umfrage im letzten Herbst haben sich vier von fünf Personen dafür ausgesprochen, dass Tierquälereien schärfer bestraft werden sollten. Leider hat es das Parlament verpasst, diesem Anliegen bei der Revision der Strafgesetzordnung Rechnung zu tragen. Germann: Natürlich nehmen Tiere in unserer Gesellschaft heute einen höheren Stellenwert ein. Der Umgang mit Tieren will gelernt sein. Persönlich bin ich der Auffassung, dass Personen, die Tiere quälen, auch im Umgang mit Menschen zu Gewalttätigkeit neigen. In Ihrer Argumentation vermischen Sie zwei Dinge, Herr Lienhard. Sie fordern ein härteres Strafrecht in Bezug auf Tierquälereien, darüber sollte man separat diskutieren. Das Tierschutzgesetz regelt lediglich den Bereich der Verstösse und setzt auf die Prävention beziehungsweise Information. Denken Sie nur an unseren neuen Umgang mit Wellensittichen, die nicht mehr allein gehalten werden dürfen. In diesem Kontext bringt ein Tieranwalt nichts – er kommt erst dann zum Zuge, wenn ein Tier schon gequält worden ist.

Das Strafgesetzbuch sieht für Tierquäler Höchststrafen von bis zu 20 000 Franken beziehungsweise vier Jahren Freiheitsstrafe vor – ein Jahr mehr als für eine einfache Körperverletzung an einem Menschen. Reicht das nicht?
Germann: Der Tieranwalt wäre ein Teil der Strafverfolgungsbehörden wie die Staatsanwaltschaft. Auf die Ausschöpfung des Strafrahmens hätte er keinen direkten Einfluss, da die Strafzumessung den Gerichten obliegt. Lienhard: Dass der Strafrahmen nicht voll ausgeschöpft wird, ist auch bei anderen Delikten die Regel. Aber das ist auch nicht die Idee hinter dem Tierschutzanwalt. Doch es kann wohl nicht sein, dass wie etwa im Kanton Zug ein Hundehalter mit 200 Franken gebüsst wird, wenn er seinem Hund mit einem Holzknüppel den Schädel einschlägt. Ein solches Urteil hat nie und nimmer eine abschreckende Wirkung. Wir bestreiten nicht, dass Prävention und Information wichtige Eckpfeiler des Tierschutzgesetzes sind. Doch ohne Abschreckung kommt das Gesetz nicht aus. Diese Lücke kann ein Tierschutzanwalt füllen. Germann: Die Kantone haben doch schon seit Jahren die Möglichkeit, einen Tieranwalt einzusetzen. Lienhard: Aber sie machen es nicht. Darum braucht es eine Bundeslösung. Germann: Zürich hat den Tieranwalt 1992 eingeführt. Das hat letztlich nur dazu geführt, dass viele der zusätzlich angestrengten Verfahren eingestellt werden mussten. Härtere Strafen wurden nicht ausgesprochen. Lienhard: Das stimmt einfach nicht! Germann: Die Zurückhaltung der Kantone hat einen plausiblen Grund. Die Schaffung eines Spezialanwalts für Tierfragen stellt an sich einen Fremdkörper innerhalb der Strafverfolgung dar. Dem Tierwohl wird anderweitig Rechnung getragen, denken Sie nur an die kantonalen Veterinärämter und Tierschutzfachstellen, die Polizei und die Staatsanwaltschaften.

Fehlt es den Richtern, anders als bei Geschwindigkeitsexzessen, an Sensibilität, wenn es um Tierquälereien geht? 
Germann: Ich denke schon. Der oben geschilderte Hundefall aus Zug legt den Schluss nahe, dass der entsprechende Richter eine Weiterbildung nötig hätte. Vielerorts wird dem Umstand, dass Tiere rechtlich keine Sache mehr sind, offensichtlich noch zu wenig Rechnung getragen. Verschärfungen im Strafgesetz wären meines Erachtens sinnvoller als ein aufgeblähter Strafverfolgungsapparat, der letztlich nur die Bespitzelung fördern würde. Lienhard: Nur acht Prozent aller Fälle von Tierquälerei kommen tatsächlich vor den Richter. Der ganze Rest wird auf der untersten Instanz – in vielen Kantonen ist das ein Bezirksamt – per Strafbefehl erledigt. Gerade hier passieren die Fehlurteile. Anders als ein Tierquäler haben die Vertreter der Tiere keine rechtsstaatlichen Mittel, um gegen einen zu milden Strafbefehl zu rekurrieren. Der Tierschutz ist der einzige Bereich im Strafrecht, in dem eine Partei faktisch gesehen kein Rechte hat. Germann: Tiere sind streng genommen nun mal keine Partei vor Gericht. Lienhard: In vielen Bereichen können interessierte Kreise in der Schweiz das Verbandsbeschwerderecht geltend machen. Etwas Vergleichbares hat der Tierschutz bis heute nicht. Ein Tierschutzverein kann zwar qualifizierte Verstösse gegen das Gesetz bei der Polizei melden, doch dann ist sein Einfluss ausgeschöpft.

Bietet das heutige System keine Möglichkeit, dem Wohl der Tiere angemessen Rechnung zu tragen? 
Lienhard: Der Schweizer Tierschutz hat vor drei Jahren eine Anzeige gegen einen Zauberer eingereicht, der in einer Nummer Leoparden zusammen mit Hasen hat auftreten lassen. Die Hasen waren auf der Bühne so sehr verängstigt, dass man von Tierquälerei sprechen konnte. Auch die Unterbringung der Leoparden vor und nach der Aufführung entsprach nicht einmal den Minimalanforderungen des Tierschutzes. Auf unsere Anzeige hin hat das zuständige Untersuchungsrichteramt korrekterweise eine Expertise verlangt – jedoch ausgerechnet bei jenem Kantonstierarzt, der die Show zuvor bewilligt hatte. Unsere Klage wurde abgewiesen, ebenso die anschliessende Beschwerde. Dies mit der Begründung, dass wir nicht einspracheberechtigt seien. Mit einem Tierschutzanwalt wäre das nicht passiert. Germann: Das ist ein stossender Einzelfall, den es so nicht geben dürfte – mit oder ohne Tieranwalt. Ich glaube trotzdem, dass die Kantone ihr Bestes geben, um dem Tierwohl auch in juristischen Belangen gerecht zu werden. Lienhard: Tatsache ist, dass jeder Raser und jeder Tierquäler die Möglichkeit hat, sich vor Gericht zu verteidigen. Nur Tierschützer können sich nicht für gequälte Tiere einsetzen. Germann: Es kann nicht angehen, dass die Tierschützer einen rechtlichen Sonderstatus für sich reklamieren. Wo kämen wir denn hin, wenn staatliche Institutionen zu einem verlängerten Arm einer privaten Organisation verkommen würden? Lienhard: Niemand sagt, dass wir das wollen, Herr Germann.

Ein Tieranwalt führe zu mehr Bürokratie und teuren Verfahren, so lautet ein Vorwurf der Gegner. Können Sie das entkräften, Herr Lienhard?
Lienhard: Der Kanton Zürich mit über einer Million Einwohnern leistet sich einen Tierschutzanwalt mit einem 30-Prozent-Mandat. Zusammen mit seiner Teilzeitsekretärin verursacht er Kosten von rund 80 000 Franken, wobei man diesen Betrag fairerweise mit den zusätzlichen Bussen, die durch seine Tätigkeit ausgesprochen werden, verrechnen müsste. Für den ganzen Bereich der Strafprozesse wendet der Kanton Zürich jährlich rund 100 Millionen Franken auf – angesichts dieser Zahlen erübrigt sich die Diskussion über die Kosten für einen Tierschutzanwalt. Zumal kleinere Kantone die Möglichkeit erhalten sollen, gemeinsam einen Tierschutzanwalt anzustellen. Germann: Sie blenden die Tatsache aus, dass ein Tieranwalt für mehr Gerichtsverfahren sorgt, und das treibt letztlich die Kosten in die Höhe. Ordnungspolitisch lässt sich ein solcher Spezialanwalt beim besten Willen nicht rechtfertigen.

Erklären Sie! 
Germann: Wir haben eine Tierschutzgesetzgebung auf Bundesebene, dazu kommt die entsprechende Verordnung. Bei der Ausgestaltung ihrer Instanzen sind die Kantone bis heute frei. Wenn der Vollzug vor Ort funktioniert und die Bevölkerung mit dem System zufrieden ist, dann besteht kein Handlungsbedarf, und der Gesetzgeber sollte von sich aus nicht tätig werden. Wenn einer von 26 Kantonen einen Tieranwalt eingeführt hat, so kann es doch nicht angehen, dass alle anderen im Rahmen einer zentralistischen Lösung nachziehen müssen. Lienhard: Wir haben nun einmal keine Alternative zur Initiative, wenn wir unser Anliegen umsetzen wollen. In anderen Rechtsbereichen hat man im Rahmen der Revision der Strafprozessordnung gerade versucht, die Vollzugsautonomie der Kantone einzugrenzen. Offenbar hat das juristische Flickwerk also auch seine Schattenseiten. Germann: Die revidierte Strafprozessordnung wird ja erst gerade umgesetzt. Warten wir doch erst einmal die Erfahrungen ab. Zudem schafft die Revision ja die Möglichkeit, dass Kantone Spezialanwälte einsetzen können. Es ist durchaus denkbar, dass sich einzelne Kantone in Bezug auf den Tieranwalt mit Zürich zusammentun und die dortige Lösung übernehmen. Das wäre alleweil besser als eine aufgezwungene Lösung durch den Bund. Lienhard: Wir sind nicht so naiv zu glauben, dass die Kantone nur aufgrund der geänderten Strafprozessordnung die Zusammenarbeit suchen würden. Germann: Wenn der Tieranwalt eine so segensreiche Institution wäre, hätten andere Kantone schon längst das Zürcher Modell von sich aus übernommen. Offensichtlich ist das bisherige System tauglich genug und die Furcht vor der zusätzlichen Bürokratie und den Mehrkosten grösser als die Aussicht auf einen konkreten Nutzen. Lienhard: Das ist die Sicht von Bundesrat und Parlament. Nochmals: 80 Prozent der Bevölkerung sehen das anders. Sie wollen einen griffigen Tierschutz. Germann: Meiner Meinung nach betreiben die Initianten mit dem Tieranwalt Etikettenschwindel. Da steht zwar Tierschutz drauf – doch im Paket versteckt sich Bürokratie. Bestenfalls sorgt ein Tieranwalt für härtere Urteile gegen Tierquäler, mit Sicherheit aber für längere Verfahren und höhere Kosten.

Fördert ein Tierschutzanwalt das Denunziantentum? 
Lienhard: Überhaupt nicht. Aus meinen eigenen Erfahrungen als ehrenamtlicher Tierschutzinspektor weiss ich, dass Denunziationen schon heute an der Tagesordnung sind. Gründe dafür sind etwa Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Kampfscheidungen. Mit dem Tierschutzanwalt hat das nichts zu tun. Das Einzige, was wir gegen mögliche falsche Verdächtigungen tun können, ist, auf anonyme Anzeigen gar nicht mehr einzugehen. Im Thurgau praktiziert das der Kantonstierarzt schon seit längerer Zeit so. Anders sieht es bei den Strafverfolgungsbehörden aus, da Tierquälerei ein Offizialdelikt ist. Germann: Die Gefahr von Falschanzeigen steigt mit Sicherheit, wenn man weiss, dass sich möglicherweise noch ein besonderer Anwalt mit dem Vorwurf auseinandersetzt. Eine gewisse Fallzahl für den Tieranwalt ist im Falle eines Ja auch im Interesse der Behörden. In der Schweiz wurde noch nie eine staatliche Institution geschaffen, die später nicht den Drang zur Expansion entwickelt hätte.