Schaffhauser Nachrichten: Martina Munz wird neue SP-Nationalrätin

Seit 1999 ist Hans-Jürg Fehr Nationalrat für den Kanton Schaffhausen. Gestern hat er seinen Rücktritt bekannt gegeben, um seiner Nach-folgerin Platz zu machen. Im Wahlkampf hatte er diesen taktischen Schritt noch kategorisch ausgeschlossen.

Von Zeno Geisseler

In der Schaffhauser Bundeshausdelegation kommt es zu einem grossen Wechsel. Der langjährige SP-Nationalrat und frühere SP-Schweiz-Präsident Hans-Jürg Fehr (64) hat gestern an einer Medienkonferenz seinen Rückzug aus der Bundespolitik bekannt gegeben. Seine Nachfolgerin wird die Kantonsrätin und SP-Schaffhausen-Präsidentin Martina Munz (57) aus Hallau. Sie hatte bei den Nationalratswahlen 2011 mit Fehr auf der SP-Liste kandidiert und kann nun nachrücken.

Der Schritt kommt überraschend, denn im Vorfeld der Nationalratswahlen hatte Fehr einen Rücktritt während der Amtszeit stets kategorisch ausgeschlossen: «Nein, das werde ich nicht machen. Wenn ich wiedergewählt werde, werde ich mein Mandat bis zum Schluss ausüben», hatte Fehr im Gespräch mit den SN am 15. September 2011 beteuert. Am 24. Oktober, am Tag der Wahl, wiederholte er sein Versprechen: «Ich werde während der ganzen vier Jahre in Bern bleiben und nicht vorzeitig zurücktreten.» Nun hat er sich doch umentschieden. «Man sagt nicht immer alles», sagte Fehr gestern. «In Bern ist es heute schon fast normal, dass man so zurücktritt, dass jemand nachrücken kann.»

«Lektion gelernt»

Er begründete seinen Schritt mit zwei Argumenten: Erstens werde er im August 65 Jahre alt, somit trete er ins ordentliche Pensionsalter über. Zweitens gehe es darum, den Schaffhauser SP-Sitz zu sichern. Seit bald 100 Jahren halte seine Partei diesen Sitz, doch 1999, als er in den Rat gewählt worden sei, hätten der bürgerlichen Gegenseite nur gerade 132 Stimmen gefehlt, und sie hätte der SP das Nationalratsmandat abgenommen. «Dieser hauchdünne Ausgang war mir eine Lektion, die ich begriffen habe», sagte Fehr. «Die Chance für die Partei, den Sitz zu behalten, ist grösser, wenn man mit jemandem antritt, der das Amt schon innehat.» Er gebe seiner Nachfolgerin nun Gelegenheit, sich als Bisherige in zwei Jahren wieder um das Mandat zu bewerben. «Dies war ein entscheidender Beweggrund», sagte er. Denn es sei für die SP so oder so schon schwierig, überhaupt einen der beiden Schaffhauser Nationalratssitze zu gewinnen, dazu brauche es mindestens ein Drittel der Stimmen. Da der Wähleranteil der Sozialdemokraten bei den städtischen und kantonalen Wahlen kleiner sei als noch vor vierzehn Jahren, sei die Hürde noch grösser geworden und damit auch die Notwendigkeit, den Sitz zu sichern. Fehr unterstrich, dass sein Abschied aus der Politik endgültig und vollständig sei. Er werde kein neues Amt annehmen und seiner Nachfolgerin auch nicht dreinreden. «Es wird kein ‹Echo vom Rheinfall› geben», sagte er. Er werde aber seine Neben- und Ehrenämter behalten, so die Präsidien bei der Wochenzeitung «Schaffhauser az» und bei der Hilfsorganisation «Solidar Suisse», dem ehemaligen Arbeiterhilfswerk. Zudem sei er ja ursprünglich Historiker, und er werde die Geschichte seines Thurgauer Heimatdorfs Rheinklingen aufarbeiten.

«Grosse Fussstapfen»

Martina Munz bedankte sich bei Fehr für seine Arbeit: «Hans-Jürg Fehr hinterlässt grosse Fussstapfen», sagte sie. Sie stellte klar, dass sie sich sehr auf das Amt freue, ihm aber auch viel Respekt entgegenbringe (siehe auch «Nachgefragt» rechts). Die ETH-Agraringenieurin und Berufsschullehrerin gelobte, dass sie sich mit grossem Einsatz dem Amt widmen werde. «Mir ist bewusst, was für Weichen in Bern gestellt werden. Das beeinflusst uns hier im Kanton sehr stark», sagte sie. «Ich bleibe meiner Grundhaltung treu und werde meine politischen Schwerpunkte nicht aus den Augen verlieren.» Drei Themen seien ihr besonders wichtig: Erstens «brauchen wir eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft. Kinder dürfen kein Armutsrisiko mehr sein.» Es sei wesentlich, dass man Familie und Beruf unter einen Hut bringen könne. Nur so könne die Gesellschaft wieder verjüngt werden. Ihr zweiter Schwerpunkt ist die Energiewende. «Es ist für die Schweizer Wirtschaft entscheidend, dass wir die Wende rasch schaffen und daraus eine hohe Wertschöpfung erzielen», sagte Munz. Ihr dritter Schwerpunkt ist eine solidarische Gesellschaft. «Die Gesellschaft misst sich am Wohlergehen der Schwächsten. Dies gilt in der Schweiz und auch weltweit. Wir müssen uns verabschieden von Lohnexzessen und Profitgier.» Es brauche faire Löhne für alle, international wie in der Schweiz. Fehrs Rücktritt erfolgt offiziell per 8. September. Er wird also noch an der Sommersession der Eidgenössischen Räte teilnehmen. Am 9. September, dem ersten Tag der Herbstsession, wird dann Martina Munz in Bern vereidigt werden und somit das Mandat übernehmen.

«In Bern ist es heute schon fast normal, dass man so zurücktritt, dass jemand nachrücken kann»

Abtretender Nationalrat

Weggefährten und Kontrahenten loben die politischen Verdienste von Hans-Jürg Fehr. Aber nicht alle finden seinen taktischen Schachzug positiv.

Schaffhausen/Bern «Mit Hans-Jürg Fehr tritt jemand zurück, der einen beeindruckenden Einsatz geleistet hat», kommentierte der Schaffhauser FDP-Präsident Harald Jenny die Nachricht, dass Fehr seine Politkarriere beendet. Und Jenny fügte an: «Fehr ist eine Koryphäe.» Politisch gehe der SP-Politiker zwar in eine andere Richtung als er, doch er habe immer sehr gut mit ihm diskutieren können. «Der Rücktritt hat mich überrascht», sagt Mariano Fioretti, kantonaler Parteisekretär der SVP. «Fehr hat dem Stimmvolk gesagt, dass er vier Jahre bleibt.»

Ständerat Thomas Minder (parteilos) lobt Fehr als verdienstvollen Politiker, kritisiert aber, dass er die Amtszeit nicht beendet: «Vorzeitige Rücktritte von Mandatsträgern sind falsch, wenn es keinen zwingenden Grund wie eine Krankheit, einen Unfall oder die Wahl in ein anderes Amt gibt.» Fehr hatte gestern argumentiert, es handle sich um einen SP-Nationalratssitz und nicht um einen «Fehr-Sitz», denn der Nationalrat werde im Proporzwahlsystem gewählt. Das heisst, dass die Stimmen in erster Linie an die Partei gehen, und entsprechend des Wähleranteils werden die Sitze den Kandidaten mit den meisten Stimmen zugeteilt. Minder ist aber der Ansicht, dass gerade in einem kleinen Kanton wie Schaffhausen mit nur zwei Nationalratssitzen auch die Proporzwahlen eher Majorzwahlen, also Mehrheitswahlen, seien. Und da gehe es auch um Köpfe – insbesondere wenn ein so bekannter Politiker wie Fehr nochmals antrete. Und Minder fragt sich: «Wussten die Schaffhauser wirklich, dass Fehr die Amtsperiode nicht fertig machen wird?»

Taktisch geschickt

Ständerat Hannes Germann (SVP) hält den Zeitpunkt für geschickt gewählt: «So hat Martina Munz genügend Zeit, um sich einzuarbeiten und bis zu den Wahlen ein paar erste Duftmarken zu setzen.» Fehr sei ein pointierter Sozialdemokrat und habe bis zum Schluss einen motivierten Eindruck auf ihn gemacht: «Er politisierte zwar nicht in meinem Sinn, aber seine Politik war in sich konsistent.» Zudem habe Fehr durch die Eroberung des SP-Parteipräsidiums in einer Kampfwahl auch auf nationaler Ebene hohe Bekanntheit erlangt. «Dass seine Amtszeit als SP-Präsident nicht allzu erfolgreich war, kann man nicht ihm allein anlasten.» Lobende Worte findet der aktuelle SP-Parteipräsident und Freiburger Ständerat Christian Levrat. «Mit Hans-Jürg Fehr verlässt eine der glaubwürdigsten Figuren die politische Bühne», hält er fest. Fehr habe die Werte der Sozialdemokratie wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität verkörpert und sei dabei für die Partei ein wichtiger Kompass. Der von Fehr gewählte Weg sichere den fast 35 Prozent SP-Wählenden, dass sie dauerhaft und mit starker Stimme in Bern vertreten seien. Für Nationalrat Thomas Hurter (SVP) war Fehrs Rücktritt während der Amtszeit absehbar: «Davon war ja auch schon die Rede.» Ihm persönlich sei Fehrs Auftreten oft etwas zu ideologisch gewesen: «Es war schwierig, Kompromisse zu finden. Aber vermutlich sagt er dasselbe über mich.» Hurter freut sich über seine neue Nationalratskollegin Martina Munz. Und vielleicht werde es nun auch mit den Kompromissen etwas einfacher.