In der kleinen Kammer ist nur bei den wenigsten Abstimmungen ersichtlich, wo die einzelnen Ständeräte stehen. Das soll so bleiben, meint die zuständige Kommission. Doch die Befürworter der vollen Transparenz bleiben am Ball.
Von Tobias Bär
BERN Im Ständerat gelten andere Gepflogenheiten als im Nationalrat. Jüngst rügte die Sekretärin der kleinen Kammer eine NZZ-Journalistin, weil diese auf der Pressetribüne ihre Schultern entblösste. Das Geschäftsreglement des Ständerats hält die im Rat anwesenden Personen zum Tragen «schicklicher Kleidung» an. Im Nationalratssaal hingegen gilt zumindest auf dem Papier seit 2003 die textile Narrenfreiheit.
Die Reglemente der beiden Räte unterscheiden sich aber noch in einem anderen, demokratiepolitisch ungleich wichtigeren Punkt. In der grossen Kammer ist bei jeder Abstimmung ersichtlich, wie sich die einzelnen Parlamentarier verhalten haben. Im Ständerat werden die Namenslisten hingegen nur bei Gesamt- und Schlussabstimmungen veröffentlicht. In der Detailberatung, in der es um die einzelnen Artikel eines Gesetzes geht, ist lediglich das Stimmenverhältnis öffentlich einsehbar.
Teilweise Transparenz seit 2014
Und dies auch erst seit dem Frühjahr 2014. Damals wurde die elektronische Abstimmungsanlage in Betrieb genommen, die eine Auswertung des individuellen Verhaltens überhaupt möglich macht. Während Jahren hatten die Standesvertreter die althergebrachte Abstimmung per Handerheben verteidigt. Dann wurden fehlerhafte Auszählungen publik. Der öffentliche Druck stieg, und der Weg war frei für die Neuerung.
Einer, der lieber beim Abstimmen per Handerheben geblieben wäre, ist der Tessiner Filippo Lombardi. Heute, nach zweijähriger Erfahrung mit dem neuen System, sagt der CVP-Vertreter: «Ich kann damit leben. Auch wenn die besondere Aura des Ständerats etwas darunter gelitten hat.» In Lombardis Aussage schwingt das Bild von der «chambre de réflexion» mit, in der die Gesetzgebungsarbeit höheren Ansprüchen genügen soll und in der Kompromisse über die Parteigrenzen hinweg eher möglich sind. Dieser konsensuale Charakter sei durch die elektronische Anlage und die teilweise Publikation der Namenlisten gefährdet, meinten die Gegner des Systemwechsels. Denn mehr Transparenz führe zu mehr Parteidisziplin und damit zu höheren Hürden bei der Konsensfindung.
Germann: «Hat sich bewährt»
«Die parteiinterne Geschlossenheit im Ständerat hat tatsächlich zugenommen», sagt SVP-Ständerat Hannes Germann. «Ich glaube aber nicht, dass dies mit dem neuen Abstimmungsprozedere zusammenhängt.» Dass Christian Levrat (SP-Präsident), Philipp Müller (bis vor Kurzem FDP-Präsident) und Filippo Lombardi (CVP-Fraktionschef) im Ständerat sässen, habe wohl einen stärkeren Einfluss auf die Parteidisziplin, so der Schaffhauser. «Die elektronische Abstimmung hat sich bewährt, ohne dass sich die Kultur im Ständerat wesentlich verändert hätte.» Germann hält es für möglich, dass sich in der kleinen Kammer inzwischen eine Mehrheit für die vollständige Transparenz finden liesse – auch weil mit den Wahlen vom Herbst einige Gegner ausgeschieden sind.
In der Staatspolitischen Kommission allerdings waren sie vergangene Woche immer noch in der Überzahl. Die Kommission sprach sich gegen eine parlamentarische Initiative aus dem Nationalrat aus, die den Ständerat zur Publikation sämtlicher Abstimmungsresultate per Namensliste verpflichten will. Dies aber denkbar knapp mit sechs zu fünf Stimmen.
Caroni für volle Transparenz
Zur unterlegenen Minderheit gehört Andrea Caroni (FDP/AR). «Die Öffentlichkeit, die Stimmbürger und auch die Nationalräte sollen auch in der Detailberatung wissen, wie wir abstimmen», sagt Caroni. Der Ausserrhoder sass bis vergangenen Herbst im Nationalrat. Wer im Ständerat bei einzelnen Punkten auf der gleichen Seite stehe und wen es noch zu überzeugen gelte – das sei für die Nationalräte heute schwierig zu eruieren, so Caroni. Die Bedenken, dass die Transparenz das Abstimmungsverhalten beeinflussen könnte, teilt Caroni nicht: «Man darf doch erwarten, dass ein Ständerat gemäss seiner persönlichen Überzeugung abstimmt und dazu steht.»
Caronis Parteikollegin Karin Keller-Sutter (SG) hält wenig von einer erneuten Praxisänderung: «Die heutige Regelung entspricht dem Wesen der kleinen Kammer. Wenn aus dem Ständerat ein kleiner Nationalrat wird, dann kann man ihn abschaffen.» Hannes Germann ist im Grundsatz für die vollständige Transparenz, aber: «Der Anstoss dazu müsste vom Ständerat selbst kommen. Wir schreiben dem Nationalrat auch nicht vor, dass er analog zu uns bei Sitzungsbeginn eine Präsenzkontrolle durchführen muss.»
Caroni und weitere gleichgesinnte Ständeräte liebäugeln nun mit einem eigenen Transparenz-Vorstoss, dem nicht das Etikett der Einmischung von aussen anhängen würde.