Schaffhauser Nachrichten: «Nur Reiche profitieren» – «Stimmt nicht»

Die SP-Steuer-Initiative sorge für mehr Gerechtigkeit, indem sie den Steuerwettbewerb unter den Kantonen einschränke, sagt Nationalrat Hans-Jürg Fehr (SP/SH), der an der Vorlage mitgearbeitet hat. Das bisherige System habe sich bewährt, findet hingegen Ständerat Hannes Germann (SVP/SH). Es sorge für ein tiefes Steuerniveau.

von Eveline Rutz

Herr Fehr, was stört Sie am Steuerwettbewerb unter den Kantonen? 

Hans-Jürg Fehr: Es stört mich, dass er zu einem Steuersenkungswettbewerb geworden ist, von dem fast ausschliesslich die Superreichen profitieren. Es stört mich, dass sich die Kantone gegenseitig die besten Steuerzahler abjagen. Statt ein Miteinander herrscht ein Alle-gegen-alle. Und es stört mich, dass die Unterschiede zwischen den Tiefsteuer- und den Hochsteuerkantonen immer grösser werden. Obwohl man im gleichen Land lebt und das gleiche Einkommen hat, muss man an einem Ort fünfmal mehr abgeben als an einem anderen. Das ist missbräuchlich. Hannes Germann: Ich halte den Steuerwettbewerb im Gegenteil für etwas Wertvolles, was sich bewährt hat und dem Föderalismus entspricht. Es ist sinnvoll, dass Kantone und Gemeinden die notwendige Höhe ihrer Steuern selber bestimmen können. Diese Autonomie ginge verloren, wenn die Initiative angenommen werden würde. Das wäre ein fatales Signal – auch gegenüber dem Ausland.

Sorgt der Steuerwettbewerb nicht dafür, dass die öffentlichen Leistungen möglichst kostengünstig erbracht werden? Davon profitieren letztlich doch alle Steuerpflichtige. 

Fehr: Der haushälterische Umgang mit den finanziellen Mitteln ist nicht auf den Steuerwettbewerb zurückzuführen, sondern auf die direkte Demokratie. Studien haben nachgewiesen, dass Hochsteuerkantone die Einnahmen in der Regel haushälterischer einsetzen als Kantone, die im Geld schwimmen. Entscheidend ist, dass die Stimmberechtigten über den kantonalen Steuertarif und den kommunalen Steuerfuss selbst entscheiden können. Was mir wichtig ist: Unsere Initiative bevormundet die Kantone nicht. Sie macht eine einzige neue Harmonisierungsvorschrift. Sie legt fest, dass bei Einkommen ab 250 000 Franken ein Mindeststeuersatz von 22 Prozent gelten muss. Germann: Das ist ein massiver Eingriff ins Steuersystem, mit dem die direkte Demokratie ausgehöhlt wird. Fehr: Nein, es ist bereits die dritte Vorschrift. Germann: Das macht es nicht besser.

Welche Vorschriften sprechen Sie an, Herr Fehr? 

Fehr: Es gibt bereits zwei Vorgaben, die einen materiellen Harmonisierungseffekt haben. Die eine ist das Verbot degressiver Steuern, welches das Bundesgericht 2007 festgelegt hat; die andere ist der Verfassungsartikel, der besagt, dass die Kantone keine ungerechtfertigten Vergünstigungen zulassen dürfen. Unsere Initiative bringt eine dritte Vorschrift, welche die Bundesverfassung präzisiert. Aber: Wie die Kantone ihre Steuern um diesen Mindeststeuersatz gestalten, ist ihnen vollkommen freigestellt. Germann: Ein Tarifsprung bei Einkommen ab 250 000 Franken und Vermögen ab 2 Millionen ist reine Willkür. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass er einer näheren Überprüfung nicht standhalten würde, er wäre in insgesamt 16 Kantonen inklusive der Mehrzahl aller Gemeinden verfassungswidrig. Kantone und Gemeinden, die steuerlich attraktiv sind, müssten ihre Steuern massiv erhöhen. Zudem gäbe es bei der Umsetzung enorme Probleme. Fehr: Von der Initiative betroffen wäre nur ein kleiner Teil – nicht einmal ein Prozent – der Steuerpflichtigen. Aus der Botschaft des Bundesrates geht hervor, dass die grosse Mehrheit der Kantone die Initiative bereits erfüllt. Germann: Das stimmt nicht. In 15 Kantonen ist die Steuerbelastung für Alleinstehende mit einem Einkommen von 250 000 Franken tiefer als die 22 Prozent, welche die SP fordert. Fehr: In neun Kantonen ist das der Fall. In sechs Kantonen sind einzelne Gemeinden betroffen. Germann: Ich halte mich an die Botschaft des Bundesrates. Fehr: Die Formulierung des Bundesrates ist etwas geschummelt. Es ist jedenfalls nur eine kleine, superreiche Minderheit, die von Anpassungen betroffen wäre.

Das ist heftig umstritten. Besteht denn nicht die Gefahr, dass Topverdiener und Vermögende aufgrund der neuen Bestimmungen abwandern würden und schliesslich der Mittelstand stärker zur Kasse gebeten werden müsste? 

Fehr: Einen Abwanderungsdruck wird es nicht geben. Es leben schon heute viele Reiche in Kantonen, in denen sie sogar höhere Steuern bezahlen müssen, als wir fordern. Ich denke etwa an Bern, Basel oder die Waadt. Die Harmonisierung wird im Gegenteil dazu führen, dass es sich nicht mehr lohnen wird, nur wegen der Steuern den Kanton zu wechseln. Germann: Wie viele abwandern würden, kann man nicht sagen. Eine Annahme der Initiative würde jedenfalls nicht dazu passen, wie wir in der Schweiz mit Vermögenden umgehen. Ich bin froh, wenn Menschen, die viel verdienen – wie etwa der Sympathieträger Roger Federer – hier Steuern zahlen. Das sind Personen, die überdurchschnittlich viel zum Wohlstand und zum Steueraufkommen des Landes beitragen. Die Steuerpflichtigen, deren Einkommen über 250 000 Franken liegt oder die ein Vermögen über 2 Millionen haben, bezahlen gut ein Drittel der direkten Bundessteuer. Der Finanzausgleich sorgt mit einem ausgeklügelten System zudem für ein ausgewogenes Zusammenleben, von dem gerade Finanzschwächere profitieren. Fehr: Dieses gute Zusammenleben ist gefährdet, weil sich die Kantone je länger, je mehr bekämpfen, um einander die guten Steuerzahler abzuwerben. Sie erheben immer tiefere Steuern und erhalten zum Teil dennoch Beiträge aus dem Finanzausgleich. Dagegen regt sich auch aus Schaffhausen zu Recht Widerstand. Für den Zusammenhalt in der Schweiz ist dieser Steuersenkungswettbewerb sicher kein Vorteil. Germann: Es ist doch egal, ob Federer in Basel oder in der Innerschweiz Steuern zahlt. Ich finde es gut, dass er überhaupt in der Schweiz Steuern zahlt. Der Steuerwettbewerb hat schon seinen Sinn. Seit 1970 hat sich das Bruttoinlandsprodukt ziemlich genau verfünffacht. Die Steuereinnahmen von Kantonen und Gemeinden haben sich in der gleichen Zeit versiebenfacht, jene vom Bund gar verachtfacht. Da kann man doch nicht sagen, dieser Wettbewerb sei ruinös. Im Gegenteil: Er sorgt dafür, dass wir unsere Aufgaben nach wie vor auf einem vergleichsweise günstigen Steuerniveau bestreiten können. Er ist der beste Garant dafür, dass der Schweizer Steuerzahler nicht wie im benachbarten Ausland über Gebühr gemolken wird. Fehr: Es hätte ja niemand etwas dagegen, wenn vom Steuerwettbewerb alle im gleichen Ausmass profitieren würden. Dem ist aber leider nicht so. Die Steueroasen haben für die Bevölkerung absolut nachteilige Konsequenzen. Es werden die Gebühren angehoben, und die Steuern setzen bei tieferen Einkommen an. Weil viele Reiche zuziehen, steigen zudem die Wohnungsmieten und die Bodenpreise. Menschen mit kleinem oder mittlerem Einkommen müssen solche Kantone verlassen. Germann: Wegen einiger lokaler Probleme muss man die Kantone doch nicht bevormunden. Schwyz und Zug etwa legen diese Dinge doch selbst fest. Wenn die Bevölkerung das nicht will, kann sie Korrekturen beschliessen. Das sind demokratische Entscheide.

Ist es nicht bedenklich, wenn eigentliche Reichen-Ghettos entstehen? 

Germann: Natürlich gibt es Überhitzungen, die nicht gut sind. Sie sind jedoch nicht auf den Steuerwettbewerb zurückzuführen und müssen mit anderen Instrumenten korrigiert werden. Fehr: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen tiefen Steuern und hohen Wohnungsmieten. Germann: Genf ist ein Hochsteuerkanton und dennoch überhitzt. Fehr: Genf ist eine absolute Ausnahme. Wir sprechen von den Steueroasen der Innerschweiz oder des Appenzells. Dort geht die Nettorechnung für viele nicht mehr auf. Das ist eine Tendenz, die zunimmt. Germann: Daran ändert diese Neid- Initiative gar nichts. Fehr: Das sehe ich anders.

Welche Auswirkungen hätte eine Annahme der Initiative auf den Kanton Schaffhausen? 

Germann: Jene neun Gemeinden mit einem Steuerfuss von über 110 Prozent hätten bei einer Annahme keinen Handlungsbedarf. 18 Gemeinden müssten ihre Steuern aber massiv erhöhen. Letztlich würde darunter der Mittelstand leiden. Fehr: Im Kanton Schaffhausen beträgt der Maximalsteuersatz 9,9 Prozent, und zwar bei 210 000 Franken steuerpflichtigem Einkommen. Wenn die Initiative angenommen würde, müsste der Kanton für die Einkommen ab 250 000 Franken eine zusätzliche Tarifstufe von einem Prozent einbauen, wie wir das früher schon hatten. Dann müsste mit Ausnahme von Stetten keine Gemeinde den Steuerfuss erhöhen. Germann: Das stimmt eben nur für den Kanton und jene Gemeinden mit einem Steuerfuss von 110 Prozent und darüber. Eine Mehrheit der Gemeinden müsste jedoch Anpassungen vornehmen. Sie haben Stetten erwähnt. Stetten hat mit 60 Prozent den tiefsten Steuerfuss und müsste bei 250 000 Franken einen sagenhaften Sprung von 50 Prozentpunkten einfügen. Das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit. Es müsste eine Angleichung der Progression stattfinden, was den Mittelstand treffen würde. Auf diese Gefahr machen übrigens auch die kantonalen Finanzdirektoren aufmerksam, die geschlossen gegen die Initiative sind. Fehr: Die Initiative legt nur fest, welchen Mindeststeuersatz die Kantone bei 250 000 Franken anwenden müssen. Sie sagt nicht, wie die Steuertarifkurve auszugestalten ist. Sie ergibt sich ja aus dem Steuertarif, und der ist in allen Kantonen eine Abfolge von Tarifstufen. Im Kanton Schaffhausen sind es derzeit zwölf zu je einem Prozent. Im Kanton Basel-Stadt sind es nur zwei, was beim Einkommen von 200 000 Franken einen Tarifsprung von 3,5 Prozent ergibt. Es ist also vieles möglich, die Kantone entscheiden selbst. Germann: Man kann die Tarife mit der Treppe zum Munot vergleichen. Es leuchtet allen ein, dass diese gleichmässig ansteigt. Aber man kann doch nicht plötzlich die Mauer vom Munot auch noch als Treppenstufe einführen. Weil das gegen das verfassungsmässige Prinzip der Gleichmässigkeit verstösst, müsste die ganze darunterliegende Treppe erhöht werden. Dies einmal mehr zulasten des Mittelstandes.