Nach dem Urteil des Bundesgerichts wollen Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker aus Nationalrat und Ständerat den Bundesrat zwingen, die umstrittene IV-Praxis zu ändern. Warum erst jetzt?
Andrea Tedeschi
BERN. Es brauchte Ivan, damit im Bundeshaus etwas passiert. Sein Fall wird die Politik, den Bundesrat, Juristen und möglicherweise die Gerichte noch länger beschäftigen.
Der Fall von Ivan, der in Wirklichkeit anders heisst, steht exemplarisch für die aktuelle Praxis der Invalidenversicherung (IV). Weil die IV bei chronisch kranken oder verunfallten Menschen falsche Berechnungen anstellt, wie jüngst mehrere Studien folgerten, bekommen etliche Betroffene keine Rente oder eine zu tiefe.
Deswegen musste sich Bundesrat Berset letzte Woche im Ständerat erklären. Hannes Germann (SVP/SH), der die Debatte initiiert hatte, warf dem Sozialminister vor, auf Kosten der Kleinverdiener sparen zu wollen. Sie würden zwar IV-Lohnbeiträge bezahlen, bei Invalidität aber nicht die Versicherungsleistungen erhalten, die ihnen zustünden. Ratskollegen von links bis rechts teilten die Kritik und sahen sogar die Rechtsstaatlichkeit infrage gestellt.
Der Anlass: Der 57-jährige Ivan hatte bis vor Bundesgericht gegen die IV- Berechnung geklagt. Die Bundesrichter haben die Beschwerde vor zwei Wochen abgelehnt und stützen damit den Kurs von Bundesrat Berset (die SN berichteten). Zuvor hatte dieser trotz erheblichen Widerstands die IV-Berechnung per Verordnung auf Anfang 2022 in Kraft gesetzt und will bis vorerst 2025 an ihr festhalten. Im Ständerat zeigte sich der Sozialminister ob dem Urteil denn auch bestätigt.
Führende Juristen haben vorausgesehen, dass der Handlungsdruck auf den Bundesrat und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) nach einem abschlägigen Urteil des Bundesgerichts sinken würde. Damit sei die IV-Praxis auf Jahre hinaus zementiert, sagen sie. Nun sei es an der Politik, einzugreifen.
Druck auf dem Parlament
Den Anfang macht die Sozialkommission des Nationalrats. Mit einer sogenannten Kommissionsmotion von Nationalrat Christian Lohr (Die Mitte/TG) will sie den Bundesrat zwingen, die IV-Berechnungsgrundlage rasch zu berichtigen. Traktandiert ist der Vorstoss für die Sitzung von Anfang April. «Der Unmut ist gross. Ich gehe davon aus, dass eine Mehrheit für die Motion stimmen wird», sagt Nationalrätin Barbara Gysi (SP/SG).
Auch die Sozialkommission des Ständerats will tätig werden, aber voraussichtlich erst im kommenden Herbst. Sie hat es nicht nur weniger eilig als die Schwesterkommission, auch die Mehrheiten scheinen weniger eindeutig. Ständeräte rund um Alex Kuprecht (SVP/SZ) sehen eine Änderung der IV-Praxis kritisch, weil sie Mehrkosten verursachen würde, die IV aber in Milliardenhöhe verschuldet sei. Hannes Germann gibt sich dennoch zuversichtlich, dass sich eine pragmatische Lösung finden werde. «Unsere Sozialwerke müssen glaubwürdig bleiben.»
Würde die Kommissionsmotion an den Mehrheiten scheitern und der Bundesrat die Verordnung nicht ändern wollen, gäbe es weitere Möglichkeiten, um die IV-Praxis zu ändern; mit einer neuen Klage wegen Verfassungswidrigkeit etwa. Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht an der Universität Basel, gibt ihr aber wenig Chancen. Er sagt: «Das Bundesgericht sagte, dass es am Gesetzgeber sei, Änderungen vorzunehmen.»
Tatsächlich kritisierten Bundesrichter in der Urteilsbegründung im Fall Ivan, dass das Parlament die IV-Praxis über Jahrzehnte hinweg fast ausschliesslich oder sehr weitgehend der Rechtsprechung überlassen habe. Zuvor hatte Max Beeler dasselbe erfahren. Der Witwer hatte bis vor Bundesgericht für eine Witwerrente gekämpft, wie sie in der Schweiz Frauen, nicht aber Männern zustanden. In seiner Beschwerde stützte sich Beeler auf die Verfassung, die eine Gleichbehandlung von Frau und Mann vorsieht. Das Bundesgericht lehnte die Klage jedoch ab. Die Begründung: Diese Ungleichbehandlung sei vom Gesetzgeber gewollt. Beeler gelangte an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, die ihm recht gab und die Schweiz zwang, ihre Praxis anzupassen.
Der Anwalt von Ivan erwägt ebenfalls eine Klage in Strassburg. Doch ob der Gerichtshof einer Beschwerde zur IV-Praxis zustimmen wird, hängt laut Pärli davon ab, worauf man diese stützen werde.
Wahlen stehen an
Bleibt die Frage, warum die National- und Ständeräte die IV-Berechnung nicht schon früher geändert haben, wie das Bundesgericht kritisierte, obwohl der Missstand seit Jahren bekannt ist.
Zwar ist die Berechnung der IV-Leistungen im Gesetz geregelt (siehe Artikel 16 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts), aber nur unzureichend konkretisiert. Dass das Parlament bisher das Gesetz nicht anpasste, begründen Kenner des Dossiers mit der Komplexität der Materie, aber auch damit, dass sich in der Politik nur eine Minderheit für chronisch kranke und verunfallte Menschen einsetzten.
Die IV wurde seit 2003 zwar mehrmals revidiert, die umstrittene IV-Berechnung aber belassen. Der Grund: Mit der 4. bis 6. IV-Revision sollten die Ausgaben reduziert werden. «Eine Änderung vorzunehmen, die kostet, wäre politisch nicht opportun gewesen», sagt Kurt Pärli. Erst die im Januar 2022 in Kraft getretene Revision hätte die IV-Berechnung aufnehmen können, weil sie diesmal nicht nur gespart, sondern auch in Kinder und Jugendliche investiert habe. Nun wollen die Räte nachbessern. «Eine Verbesserung der IV-Praxis wird es dann geben», sagt Pärli, «wenn der Druck auf allen Ebenen bleibt.»
Hoch wird zumindest der Druck auf die Politik bleiben. Denn in weniger als zwei Jahren wählt die Schweiz wieder das Bundesparlament. Dass Wahlen eine Wirkung auf politische Mehrheiten haben können, hat die ebenfalls komplexe Revision des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) gezeigt, als bürgerliche Politiker im Wahljahr zugunsten ihrer Profilierung von ihrer harten Linie abwichen und mithalfen, umstrittene Gesetzespassagen zu ändern.