[Schaffhauser Nachrichten] Rücknahme der Dschihadisten spaltet Schaffhauser Parlamentarier

Präsident Trumps Forderung, die ­IS-Kämpfer zurückzunehmen, betrifft auch die Schweiz. In Schaffhausen ist man betreffend Dschihadisten ­geteilter Meinung.

von Clarissa  Rohrbach

«Die Dschihadisten freizulassen, birgt ein enormes Gefahrenpotenzial.» Die Schaffhauser Nationalrätin Martina Munz (SP) ist wegen der Drohung von US-Präsident Donald Trump besorgt. Dieser setzt die EU-Staaten bereits seit Wochen unter Druck: Sie sollen ihre IS-Kämpfer, welche die USA zusammen mit der Kurdenmiliz YPG beim Vormarsch auf die letzten IS-Gebiete festgenommen haben, zurücknehmen, sonst lasse er sie frei. Die Zahl der Dschihadisten aus Europa wird auf 800 geschätzt, darunter dürften auch Kämpfer aus der Schweiz sein. Laut Nachrichtendienst des Bundes befinden sich zurzeit 78 Dschihadisten aus der Schweiz in Syrien, etwa ein Drittel besitzt einen Schweizer Pass. Wie viele davon in Haft sind, ist nicht bekannt.

Besteht ein Straftatbestand, müssen die gefangenen IS-Kämpfer laut Munz in der Schweiz vor Gericht: «Sonst tauchen sie in den Untergrund ab und radikalisieren weitere Personen.» Das könne auch zu Attentaten führen.

Auch Ständerat Hannes Germann (SVP/SH) ist überzeugt, dass die Schweiz ihre Verantwortung wahrnehmen muss: «Wir können das Problem nicht auf andere, in diesem Fall die USA, abschieben.» Wenn die Schweiz die Rechtsstaatlichkeit predige, könne sie nicht selbst ein Chaos hinterlassen, auch wenn das in Syrien sei. «Lässt man die Dschihadisten laufen, war das ganze Blutvergiessen für nichts», sagt Germann. Eine Bestrafung habe auch eine abschreckende Wirkung auf alle anderen, die Sympathien für den IS hegten.

Für Ständerat Thomas Minder (parteilos/SH) ist die Rücknahme keine Frage der Freiwilligkeit: Die Schweiz sei verpflichtet, gefangene Staatsbürger zurückzunehmen: «Aber nur diejenigen mit Schweizer Pass.» Bei schwerwiegenden Straftaten könne man einem Doppelbürger auch den Pass entziehen.Ganz anders sieht es Nationalrat Thomas Hurter (SVP/SH): Grundsätzlich ist die Schweiz nur verpflichtet, Rückkehrer mit Schweizer Bürgerrecht zu übernehmen, wenn diese selber die Rückkehr beantragen. Wer sich bewusst in den Dienst einer Organisation wie des IS begebe, müsse entsprechend hart bestraft werden.«Die Schweiz muss den Terrorismus bekämpfen und zeigen, dass sie dafür in keiner Weise Verständnis zeigt», meint Hurter.

Reise in den Krieg und zurück

Namentlich erwähnt hat der US-Präsident die Schweiz nicht. Doch Donald Trump fordert auch den Bundesrat zum Handeln auf. Mit seinem Tweet richtet er sich an alle europäischen Regierungen. Er verlangt, dass sie in Syrien Verantwortung übernehmen. Es geht um 800 Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), die derzeit in kurdischen Gefängnissen sitzen und nach dem Abzug der US-Truppen freigelassen werden könnten. Nun sollen die Dschihadisten in ihre Herkunftsländer zurückgebracht und vor Gericht gestellt werden. Sonst würden sie unkontrolliert in ihre Heimatstaaten zurückreisen, warnt Trump. Es wäre die Rückkehr einiger der gefährlichsten Menschen der Welt.

Im syrisch-irakischen Kriegsgebiet halten sich derzeit 35 Extremisten mit Schweizer Herkunft auf, die vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB) überwacht werden. In den letzten Jahren hat der NDB 78 Dschihadisten erfasst, die aus der Schweiz nach Syrien oder in den Irak gereist sind (siehe Grafik). 16 davon sind wahrscheinlich zurückgekehrt, 27 gelten als tot. Rund ein Drittel der Dschihad-Reisenden besitzt die Schweizer Staatsbürgerschaft. Die meisten davon sind Doppelbürger. Der Sicherheitsausschuss des Bundesrats berät seit Monaten, ob er freigelassene IS-Kämpfer mit Schweizer Pass zurückholen soll.

Zum Gremium gehören Verteidigungsministerin Viola Amherd (CVP), Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) und Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP). Das Trio bereitet das Geschäft vor und bringt es in den Gesamtbundesrat. Laut einer NDB-Sprecherin stellen sich bei den Schweizern, die im irakisch-syrischen Grenzgebiet inhaftiert sind oder in einem Camp festsitzen, «zahlreiche komplexe humanitäre, rechtliche und logistische Fragen». Gestern hat der Bundesrat die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats über den aktuellen Stand informiert. Die Meinungsbildung verläuft derzeit nicht nach dem üblichen Schema. So kommt es, dass sich eine CVP-Politikerin radikaler äussert als ein SVPler.

«Das wäre verrückt»

Ida Glanzmann, Luzerner CVP-Nationalrätin und Vizepräsidentin der Kommission, wehrt sich dagegen, dass die Schweiz ihre Kämpfer heimholt: «Diese Leute haben die Schweiz freiwillig verlassen, um ihr Leben in Syrien aufs Spiel zu setzen. Warum sollten wir sie zurückholen? Es wäre verrückt, wenn wir unsere Sicherheit dafür gefährden würden.» Sie findet, die Schweiz solle das Gegenteil tun: «Wenn diese Kämpfer Doppelbürger sind, sollten wir sie sogar daran hindern, in die Schweiz zurückzukehren.» Dass IS-Kämpfer dann unkontrolliert zurückreisen könnten, glaubt sie nicht: «Der NDB hat sie unter Kontrolle.» Er wisse sehr genau, wo sie sich aufhalten würden.

Glanzmann sieht die Schweiz nicht in der Verantwortung, weder für die Taten von ausgereisten Extremisten noch für die Sicherheit von Frauen und Kindern, die im Kriegsgebiet festsitzen und nicht in Kämpfe verwickelt waren. Sie sagt: «Diese Leute sind für sich selber verantwortlich.» Die Haltung der CVP in dieser Frage sei klar: «Wir waren immer sehr restriktiv.» Trump erteilt sie eine Absage: «Sorry, Herr Trump, die europäischen Länder haben eigene Regierungen und können für sich selber denken.»

Sicherheitsexperten nicht einig

Werner Salzmann, Berner SVP-Nationalrat und Präsident der sicherheitspolitischen Kommission, hat hingegen Verständnis für die Forderung aus den USA. Am besten fände er es zwar, wenn Dschihadisten aus der Schweiz in jenem Staat vor Gericht gestellt und verurteilt würden, in dem sie ihre Straftaten begangen haben. Erhalten sie dafür drakonische Strafen, sei das ihr Problem. Wenn es aber nicht möglich sei, die Dschihadisten aus der Schweiz anderswo zu verurteilen, dann müsse die Schweiz aus Sicherheitsgründen Hand bieten, sie zurückholen, in Untersuchungshaft nehmen, vor Gericht stellen und hart bestrafen: «Wenn die Kämpfer unkon­trolliert freigelassen werden und danach auf der Suche nach neuen Aufgaben durch Europa ziehen, entsteht ein grösserer ­Schaden.»

Nicht nur Politiker, auch Sicherheitsexperten sind uneins. Fabien Merz vom Center for Security Studies der ETH befasst sich mit den Gefahren, die von Dschihad-Rückkehrern ausgehen. Für ihn ist klar: «Beide Optionen bergen Risiken.» In Syrien drohen die Schweizer IS-Kämpfer freizukommen und unterzutauchen. Holt der Bund sie zurück, führt das zu neuen Pro­blemen. Straftaten im Kriegsgebiet lassen sich nur schwer nachweisen. Die Gerichte sind oft auf Kronzeugen angewiesen, wie Fälle aus Deutschland zeigen. Auch Dokumente der IS-Führung oder Videos auf sozialen Plattformen werden von den Gerichten herangezogen. Solche Beweise sind aber oft nicht vorhanden. Schlimmstenfalls müssen die Dschihad-Rückkehrer auf freien Fuss gesetzt und unter Beobachtung gestellt werden, was wiederum viel Geld kostet. Auch eine Verurteilung bannt die Gefahr oft nur kurzfristig. Unter Umständen werden die Rückkehrer im Gefängnis noch militanter oder sie radikalisieren Mithäftlinge.

Hohe Rückfallquote

Merz empfiehlt deshalb neben der strafrechtlichen Verfolgung auch Resozialisierungsmassnahmen. Dänemark erwähnt er als Vorbild, wie die Reintegration von Dschihad-Rückkehrern in die Gesellschaft funktionieren könne. Sicherheitsexperte David Schiller ist allerdings skeptisch. Er ist in Deutschland, der Schweiz und Israel als Berater tätig. Es sei schon schwierig, gewöhnliche Kriminelle zu resozialisieren: «IS-Anhänger sind radikale Überzeugungstäter, die Rückfallquote ist deshalb enorm hoch.»

Wenn die Schweiz ihre Dschihad-Reisenden vor Gericht bringe, wisse sie aber zumindest, wo sich die Terroristen aufhielten. «Bis auf den britischen Nachrichtendienst sind die westlichen Geheimdienste nicht gut genug aufgestellt, um der Terrorgefahr zu begegnen», sagt Schiller. Das gelte auch für die Schweiz. «Wenn Trump also meint, dass freigelassene IS-Kämpfer früher oder später wieder in Europa auftauchen, kann ich nur sagen: Er hat recht.»

 

Die Frage nach dem richtigen Umgang mit IS-Rückkehrern

von Thomas Seibert, Istanbul

Mehr als 40’000 Ausländer aus mehr als 120 Staaten haben sich in den vergangenen Jahren islamistischen oder anderen Gruppen in Syrien angeschlossen. Der sogenannte Islamische Staat (IS) war bei der Rekrutierung von Ausländern die erfolgreichste, aber keineswegs die einzige Organisation. Das absehbare Ende des Krieges nach den militärischen Erfolgen der syrischen Armee, die beinahe vollständige Niederlage des IS und zuletzt die Forderungen von US-Präsident Donald Trump an die Europäer lassen die Frage nach dem Umgang mit den ausländischen Kämpfern dringender werden. Einfache Antworten gibt es nicht.

Das Anti-Radikalisierungs-Netzwerk der EU schätzt, dass rund 5000 der ausländischen Kämpfer aus westeuropäischen Ländern stammen. Unter den EU-Staaten sticht Frankreich mit etwa 1900 Extremisten heraus. Aus Deutschland sollen rund 1000 Kämpfer nach Syrien gegangen sein.

Insgesamt kamen nach Angaben des US-Militärs bisher mindestens 60’000 IS-Kämpfer bei Gefechten in Syrien und Irak ums Leben. Darunter dürften mehrere Tausend Ausländer gewesen sein. Schätzungsweise 5500 Kämpfer – darunter etwa 300 Deutsche – sind inzwischen in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Fast 300 deutsche Frauen und Kinder befinden sich noch in Syrien und im Irak.

Moskau kennt kein Pardon

Viele IS-Mitglieder sagen von sich selbst, dass sie den Dschihadisten lediglich auf friedliche Weise als Köche oder Verwaltungsmitarbeiter gedient hätten – ihnen die Teilnahme an Gefechten oder Gräueltaten nachzuweisen, ist schwierig. Bei ihrem Vormarsch gegen die letzten noch verbliebenen Gebiete des IS im Osten Syriens haben die mit den USA verbündeten Truppen der Kurdenmiliz YPG viele ausländische Dschihadisten gefangen genommen und deren Familienangehörige in Lagern untergebracht.

Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge hält die YPG bis zu 1100 ausländische IS-Kämpfer und fast 2000 Familienmitglieder fest. Die Kurden fordern die Heimatländer der Gefangenen schon länger zur Rücknahme ihrer Staatsbürger auf, stossen grösstenteils aber auf taube Ohren. In der nordwestsyrischen Provinz Idlib, der letzten Rebellenhochburg im Land, sind zu-dem mehrere Tausend ausländische Kämpfer des Al-Kaida-nahen Islamistenverbandes HTS und anderer Gruppen von syrischen Regierungstruppen eingekesselt. Die Reaktion der Heimatländer der Extremisten ist unterschiedlich.

Die russische Regierung etwa hat mindestens 50 Kinder von IS-Mitgliedern ausfliegen lassen und bei Verwandten in Russland untergebracht. Bei den Kämpfern selbst kennt ­Moskau aber kein Pardon. Russland wolle die Extremisten in Idlib «auslöschen» und sie nicht nach Hause zurückkehren lassen, schrieb Marc Pierini von der Denkfabrik Carnegie Europe. Unterdessen bereiten die USA laut Medienberichten das Gefangenenlager Guantánamo für die Unterbringung amerikanischer IS-Kämpfer vor.

In Westeuropa gibt es keine einheitliche Haltung. Deutschland zögert mit einer Rücknahme extremistischer Bundesbürger und verweist auf die schwierige Beweisführung gegen mutmassliche IS-Mitglieder: Es bestehe das Risiko, dass gewaltbereite IS-Anhänger in Deutschland freikämen. Grossbritannien hat zwei besonders berüchtigten IS-Mitgliedern die britische Staatsbürgerschaft entzogen und ist mit ihrer Überstellung nach Guantánamo einverstanden. Frankreich und Norwegen wollen ihre Staatsbürger nach einer Heimkehr vor Gericht stellen.

Noch schwieriger wird das Thema dadurch, dass es international keine Einigung darüber gibt, was ein «Terrorist» ist. So haben sich nach türkischen Angaben bis zu 1200 Ausländer der kurdischen YPG angeschlossen, die mit den USA gegen den IS kämpft. Aus Sicht der Türkei ist die YPG eine Terrororganisation. Ankara droht mit einer Militärintervention gegen die Kurdenmiliz – westliche Kämpfer bei der YPG könnten sich schon bald den Truppen des Nato-Partners Türkei gegenübersehen.