[Schaffhauser Nachrichten] Showdown um gerechte IV-Renten

Der Ständerat dürfte dem Nationalrat folgen und damit Bundesrat Berset zwingen, die Berechnung der IV-Renten bis Ende 2023 zu korrigieren. Der politische Coup scheint perfekt, doch es droht neuer Ärger.

Andrea Tedeschi

Der Druck auf ihn steigt: Bundesrat Berset in der Sommersession im Ständerat. BILD KEY

BERN. Wenn der bürgerliche Ständerat dem linkeren Nationalrat folgt, obwohl Millionen von Mehrkosten drohen, muss der Missstand unbestritten sein.

Nach dem Entscheid des Nationalrats mit 170 zu 0 Stimmen empfiehlt auch die ständerätliche Sozialkommission, Bundesrat Alain Berset zu zwingen, seine IV-Praxis bis Ende 2023 zu korrigieren. Die Kommission will jedoch weniger weit gehen als der Nationalrat, der dem Sozialminister eine Frist von einem Jahr setzen will (siehe SN vom 2. Juni 2022).

Konkret soll Berset bis Ende Juni 2023 neue Grundlagen für eine fairere Berechnung wie für IV-Renten für Beeinträchtige liefern. Die Frist von einem Jahr sei unmöglich einzuhalten, wehrte sich der Bundesrat im Nationalrat.

Etliche chronisch Kranke oder Verunfallte bekommen keine Rente oder eine zu tiefe, weil die Invalidenversicherung (IV) laut Fachleuten statistische Tabellen mit zu hohen Löhnen für die Berechnung heranzieht. Besonders davon betroffen sind Gering- und Mittelverdiener. Das Problem ist zwar seit vielen Jahren bekannt, die Kritik von Rechtsgelehrten, Behindertenorganisationen, Kantonen oder Politik von links bis rechts massiv. Trotzdem weigerte sich Berset bisher, die aktuelle IV-Berechnung zu ändern. Sie sei gesetzeskonform, sagte er. Gegen erheblichen Widerstand setzte er die Praxis per Verordnung mit der IV-Gesetzesrevision auf Anfang Jahr in Kraft und will bis 2025 an ihr festhalten.

Kritiker sind entsetzt. Sie sagen, nun würden immer mehr Versicherte unverschuldet um IV-Leistungen und in die Sozialhilfe gebracht. Das Bundesgericht gab Berset und dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in seinem Vorgehen kürzlich recht. Es sei an der Politik, einzugreifen.

Sie fallen durch alle Maschen

Und die Politik hält den Druck nun hoch. Dass die ständerätliche Sozialkommission ohne Gegenstimme (12 zu 0 Stimmen bei 1 Enthaltung) eine Korrektur fordert, ist bemerkenswert. Denn die Mehrheiten im Ständerat schienen weniger eindeutig als im Nationalrat. Finanz- und Sozialpolitiker rund um Alex Kuprecht (SVP/SZ) hatten sich wegen drohender Mehrkosten dagegengestellt, die die IV mit 300 Millionen Franken beziffert hatte. Die IV sei jedoch bereits in Millionenhöhe verschuldet, sagte Kuprecht.

Dass Kritiker wie er verstummt sind, hat gemäss Recherchen der «Schaffhauser Nachrichten» mehrere Gründe.

Dem Vernehmen nach soll ein Fachartikel des Rechtsgelehrten Philipp Egli nur wenige Tage vor der besagten Kommissionssitzung Ende Juni zu einem Umdenken geführt haben. Egli, Leiter des Zentrums für Sozialrecht an der ZHAW, hinterfragt die per Anfang Jahr eingeführte Gesetzesänderung, die die IV-Berechnung für Geringverdiener laut Berset verbessern soll. «Die Gesetzesänderung löst das Problem der statistischen Tabellenlöhne nicht», sagt Egli. «Die Versicherten riskieren damit durch alle Maschen unseres Sozialversicherungsnetzes zu fallen.»

Denn die IV unterstellt Versicherten über die statistischen Lohntabellen einen zu hohen und fiktiven Lohn, den sie real auf dem Arbeitsmarkt gar nicht erzielen können. Zum Beispiel beträgt der statistische Lohn für einen körperlich beeinträchtigen Mann ohne Ausbildung und Berufserfahrung in der Versicherungsbranche 13 790 Franken. In den Lohnmedian von unter 6000 Franken fliesst das hohe Gehalt ein und verzehrt ihn. «Diese Tabellen sind nicht gemacht für die Berechnung der Invalidität», kritisiert Egli und ergänzt. «Die Gesetzesänderung hat die Situation der Versicherten verschlimmbessert.»

Weil die Tabellen die Löhne von gesunden Menschen wiedergeben, müssen sie für Beeinträchtigte nach unten korrigiert werden. Die Revision hat das bisherige Korrekturinstrument jedoch abgeschafft, ohne die Grundlagen der Berechnung für Beeinträchtigte anzupassen. Egli sagt: «Die wissenschaftlichen Grundlagen dazu sind vorhanden. Was jedoch fehlt, ist die Umsetzung.»

Kritikerin in der Arbeitsgruppe

Auf Antrag von Hannes Germann (SVP/SH) stimmte die Kommission schliesslich zu, dem Bundesrat sechs Monate mehr Zeit zu geben, um seine Berechnungsgrundlage für gesundheitlich Beeinträchtigte anzupassen. Germann sagt: «Versicherte bezahlen zwar IV-Lohnbeiträge, bekommen aber bei Invalidität nicht die Leistungen, die ihnen zustünden. Das geht nicht.» Er ist überzeugt, dass der Ständerat der verlängerten Frist bis Ende Dezember 2023 zustimmen wird: «Ein halbes Jahr mehr Zeit für den Bundesrat war ausschlaggebend, dass Kritiker in den eigenen Reihen zugestimmt haben. Folgt der Nationalrat, ist das eine Schlappe für den Bundesrat.»

Im Nationalrat reagiert man jedoch konsterniert. «Es ist etwas bemühend, dass das Bundesamt die Umsetzung herausschieben will und die Ständeratskommission überzeugt hat, dass es etwas mehr Zeit braucht», sagt Barbara Gysi (SP/SG). Das kritisiert auch ihr Ratskollege Thomas de Courten (SVP/BL): «Mir scheint das eine Verzögerungstaktik zu sein. Das wollen wir nicht.» Er will an der kürzeren Frist des Nationalrats festhalten.

Trotzdem ist eine Zustimmung zu erwarten. «Wir wollen, dass die Motion durchkommt und werden darum zähneknirschend einlenken», sagt Gysi. Auch Christian Lohr (Mitte/TG), der die Kommissionsmotion initiierte, sagt: «Es ist ein kleines Entgegenkommen, aber damit ist unsere Geduld am Ende.»

Zuspruch bekommt der Ständerat von höchst unerwarteter Seite. «Ich bin sehr dankbar für das halbe Jahr, das gibt uns mehr Luft», sagt Gabriela Riemer-Kafka. Eine Arbeitsgruppe rund um die emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht und Urban Schwegler von der Paraplegiker-Forschung Nottwil hatte seit 2020 einen neuen Vorschlag für die IV-Rentenberechnung erarbeitet. Ihre Arbeit war ausschlaggebend, dass das Bundesgericht im vergangenen November einen Entscheid zu den Lohntabellen kurzfristig vertagte. Bundesrat Berset und das BSV haben den neuen Berechnungsvorschlag seitdem wiederholt öffentlich infrage gestellt, würdigten ihn sogar mehrmals herab.

Offensichtlich hat der politische und öffentliche Druck ein Umdenken bewirkt. Denn Bundesrat Berset hat Riemer-Kafka und Schwegler inzwischen in eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe des BSV einberufen, um neue Lohntabellen für Menschen mit körperlichen, psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen zu erarbeiten. Riemer-Kafka sagt: «Eine Frist bis Juni 2023 wäre wohl zu knapp, um die Daten von mehreren Tausend Berufen und Tätigkeiten zu bearbeiten.»

Sie relativiert gleichzeitig die Erwartungen, dass alle Beeinträchtigten von den neuen Berechnungsgrundlagen profitieren werden. «Es wird weiterhin Menschen geben, die die Voraussetzungen für eine IV-Leistung nicht erfüllen werden.»

Neuer Ärger bahnt sich an

Eine Verzögerung bahnt sich bereits an. Sollte sich Berset für die neue Berechnungsgrundlage entscheiden, will er die Änderung in die Vernehmlassung schicken. Parlamentarier, Behindertenorganisationen und Gemeinden drängen jedoch darauf, dass der Bundesrat darauf verzichtet. Es sei nicht nötig, heisst es einhellig, weil die IV-Berechnung bereits 2021 im Rahmen der IV-Revision in der Vernehmlassung gewesen sei. Parteien, Kantone und Verbände hatten sich vor einem Jahr bereits dazu geäussert. Mitte-Nationalrat Christian Lohr sagt: «Es braucht nicht nochmals ein umfangreiches Verfahren, weil ein offensichtlicher Fehler korrigiert wird.»