[Schaffhauser Nachrichten] Ständeratskandidat Simon Stocker zu Germann und Minder: «Sie hatten ihre Zeit»

Er hat den bisherigen Ständeräten den Kampf angesagt und will als frische Kraft für die SP ins Stöckli einziehen. Simon Stocker präsentiert sich als freiheitsliebenden Politiker, der in wichtigen Fragen von der Parteilinie abweicht.

Von Tobias Bolli

Der 43-Jährige arbeitet als selbstständiger Experte für Alterspolitik. Bild: Melanie Duchene

«Ich bin kein Moralapostel», stellt Simon Stocker zu Beginn des Stadtspaziergangs klar. Fliegen sei für ihn ebenso wenig verdammenswert wie der gelegentliche Biss in eine gute Bratwurst. Die AL, wo er seine politischen Sporen abverdient hat, sei geradezu eine «Bratwurst-Partei» gewesen, sagt er und lacht. Ein Lachen, in dem immer auch eine Portion Schalk mitschwingt. Stocker ist an diesem Hitzetag modisch kompromisslos unterwegs, mit langen Leinenhosen, Hemd und Sakko. Wäre da noch eine Krawatte, man könnte ihn fast mit einem Banker oder Versicherungsmenschen verwechseln. Einem Bürger der oberen Mittelschicht mit Sympathien für die FDP. Wann immer möglich, setze er für die Lösung von Problemen auf Eigenverantwortung, anderen einen korrekten Lebensstil aufzudrücken, führe nicht zum Ziel.

Steckbrief

Simon Stocker hat 2008 einen Bachelor in Sozialer Arbeit absolviert und zehn Jahre darauf in derselben Disziplin den Master erlangt. Zwischenzeitlich arbeitete Stocker als Projektberater kommunale Altersarbeit bei Pro Senectute Zürich. Der geborene Herblinger war von 2007 bis 2012 Mitglied des Grossen Stadtrats und fungierte ab 2016 als Vizepräsident des Stadtrats. Zudem betätigte sich Stocker als Sozial- und Sicherheitsreferent. Heute arbeitet der 43-Jährige für Gerontologie CH als selbstständiger Experte für Alterspolitik. Stocker ist verheiratet und hat einen Sohn.

«Dort wo ihr könnt, macht es, dort wo es nicht möglich ist, lasst es», fasst er seine Haltung zusammen. So meint man zuerst wirklich, einem Freiheitlichen zuzuhören – oder einem Politiker, der gewieft auch bürgerliche Wähler von sich überzeugen will. Erst angesprochen auf die Klimapolitik (der Gang in der Sonne drängt das Thema auf), nimmt Stocker die Worte «Zwang» und «Anreiz» in den Mund. «Hier müssen wir mehr machen, reine Eigenverantwortung hat nicht geholfen.» Gleichwohl sei Schwarzmalerei auch beim Thema Klima kontraproduktiv. Aufgabe der Politik sei es, Menschen Hoffnung zu geben, nicht Horrorszenarien heraufzubeschwören. Während er spricht, grüssen ihn Passanten. Der in Herblingen aufgewachsene Politiker ist mit vielen Leuten bekannt, lebt «schon seit Menschengedenken» in der Altstadt, auch wenn er dort oft herumzügelt. Bei der Schiffländi angelangt, wagt er einen mit halber Kraft ausgeführten Seitenhieb gegen die Freiheitlichen: «Die FDP hat ein etwas idealistisches Menschenbild, oft reagiert der Mensch lustvoller, als er sollte.»

Gute Beziehung zu Germann

Stocker lässt sich den Muskelkater kaum anmerken, den er sich tags zuvor am Grümpelturnier in Beringen eingefangen hat; mit der zügigen Geschwindigkeit des Journalisten hält er problemlos Schritt. «Mir sind im ersten Spiel einige Paraden gelungen.» Auf Nachfrage räumt er ein, dass seine Truppe sämtliche Spiele verloren hat und aller Paraden zum Trotz schliesslich mit dem letzten Tabellenplatz vorliebnehmen musste. Ein Wettkampf ähnlich aussichtslos wie seine Kandidatur, könnten böse Zungen nun sagen. Stockers Chancen, sich gegen die Konkurrenten durchzusetzen, werden gemeinhin als gering eingeschätzt. Er selbst ist da entschieden anderer Meinung: «Ich würde nie für ein Amt antreten, wenn ich absolut keine Chance hätte.» Seine freundliche Miene verdüstert sich, als er von den bisherigen Ständeräten zu sprechen beginnt, obschon er sich zumindest mit Hannes Germann gut verstehe, einen anständigen Menschen mit gutem Umgangston in ihm erblicke. Nur: Germann wie auch Minder seien schon lange in Bern. «Sie hatten ihre Zeit; ich verstehe nicht, warum man jungen Leuten derart vor der Sonne steht.»

Simon Stocker glaubt, auch bürgerliche Wähler von seiner Kandidatur überzeugen zu können.

Noch vor dem Lindli hat Stocker im Schatten Platz genommen. Während er spricht, hält er seinen Blick fast ununterbrochen auf den Rhein gerichtet, kreuzt selten die Blicke des Journalisten. Seine Sätze formt er mit Bedacht, während er seine Socken nach unten schiebt oder auf die Finger seiner linken Hand zeigt, um Rezepte gegen die explodierenden Gesundheitskosten aufzuzählen. Erstens Medikamentenpreise senken, zweitens Krankenkassenprämien rückerstatten, drittens allgemeine Versorgung der spezialisierten vorziehen. Auf Parteilinie ist er auch in der Frage der Gleichberechtigung. «Wenn es eine weibliche Kandidatur gegeben hätte, dann hätte ich mir die meine noch einmal überlegt.» Nur sei eben keine Frau in das Rennen gestartet. Um Kindertagesstätten sei es in der Schweiz übrigens katastrophal bestellt. Erstens gebe es zu wenige und zweitens seien die bestehenden Kitas oft zu teuer. So müsse sich manche Frau zweimal überlegen, ob sich eine Berufstätigkeit überhaupt lohne.

Sehnsucht nach dem Mars

Dass er ein politischer Mensch ist, wird während des Gesprächs immer wieder deutlich. Stocker begibt sich selten auf den Umweg über das Persönliche, hält sich mit Auskünften über sein privates Leben, über Leidenschaften abseits der Politik zurück. Bis zuletzt spricht er den Journalisten mit «Herr Bolli» an, einen höflichen Abstand bewahrend. Einmal in Richtung Freizeit bugsiert, kommt er auf die Astronomie zu sprechen und gibt sich als Fan der Science-Fiction-Serie «Star Trek» zu erkennen, als Trekkie. «Ich hoffe sehr, dass wir in meiner Lebzeit noch auf dem Mars landen werden. Eine Reise zum nächstgelegenen Sternensystem wäre schwieriger, da die Reisenden weniger schnell altern würden als die Zurückgebliebenen auf der Erde.» Er bewundere die Grösse und Schönheit des Universums, sei aber trotzdem eher atheistisch veranlagt. Dann wird Stocker philosophisch: «Ich bin 85 Jahre auf dieser Welt, vor mir hat das Universum 14 Milliarden Jahre existiert und nach mir wird es mindestens ebenso lange weiterexistieren.» Ein Kontext, der den Alltagsstress wunderbar zu relativieren vermöge.

Kein Kadavergehorsam

Neben Stocker schüttelt ein dem Rhein entstiegener Schäferhund sein Fell aus und bereitet den Ausführungen ein prosaisches Ende. Das Raumschiff «Enterprise» landet wieder auf der Erde, Stocker steigt aus und erzählt über seine Differenzen zur SP. Einen EU-Beitritt wolle er nicht anstreben, «nicht einmal in ferner Zukunft». Der Staatenverbund habe sich alles andere als krisenfest erwiesen. Als Beispiel nennt Stocker die Flüchtlingskrise, welche eine Solidarität zwischen den Staaten sehr habe vermissen lassen; dazu kämen die hohe Mehrwertsteuer und die begrenzte demokratische Mitwirkungsmöglichkeit in der Union. «Ein Beitritt ist einfach nicht nötig», konstatiert er zusammenfassend. Wenig halte er zudem von vorauseilendem Gehorsam, der gelegentlich in der SP praktiziert werde – eine Idee soll automatisch Zustimmung erhalten, nur weil sie in der eigenen politischen Küche entstanden ist. «Ich möchte mir lieber eine eigenständige Meinung bilden.»

Unterdessen sind unzählige Schwäne, Schiffe und einige Paddelboote vorbeigeglitten, Stocker blickt auf die Uhr des Journalisten – sie geht eine Stunde nach, er liest trotzdem die korrekte Uhrzeit ab. Nun müsse er sich leider aufmachen, verkündet Stocker. Auf dem Rückweg betont er noch einmal, nicht dem prototypischen SP-Politiker zu entsprechen. Im Rahmen seiner Tätigkeit für Gerontologie Schweiz müsse er Aufträge selbst generieren, sich in seinem Marktumfeld behaupten. «Das finde ich spannend.» Dann reicht Stocker die Hand, lächelt noch einmal und eilt der Rhybadi entgegen. Dort steht nicht etwa eine Abkühlung im Rhein auf dem Programm, sondern ein Treffen mit seinem Wahlkampfteam. Stocker weiss: Es gibt noch viel zu tun.