Eine Expertin denkt laut über einen Systemwechsel in der ersten Säule nach. Die Politik ist von der Idee nicht begeistert.
Reto Zanettin
ZÜRICH. Die Jahresteuerung ist im März von 3,4 auf 2,9 Prozent gesunken. Lebensmittel, Kleider und Schuhe sind aber nochmals teurer geworden. Zudem sind per nächstem Dezember höhere Preise im öffentlichen Verkehr angekündigt. Im Verbund mit den ebenfalls gestiegenen Krankenkassenprämien ergibt sich ein Paket, das für manche Menschen nicht einfach zu schultern ist.
«Es ist ein Paket, das Ängste auslöst», sagte Christian Lohr (Die Mitte), als es im Bundesparlament während der Frühjahrssession um den vollen Teuerungsausgleich für die AHV-Renten ging. Der Thurgauer Nationalrat fand mit seinem Votum allerdings keine Mehrheit. Die Renten sind somit nur teilweise an die Teuerung angepasst worden. Sie steigen um 2,5 Prozent. Was fehlt, ist eine Differenz von 0,3 Prozentpunkten zum vollen Ausgleich, den Lohr als gerecht «für die Ärmsten in unserem Land, die der drohenden Preisspirale wehrlos ausgesetzt sind,» erachtet hätte.
Ausgeblendet hat der Mitte-Politiker in diesem Moment allerdings, dass die Renten zwischen den Jahren 2000 und 2021 um 19 Prozent angestiegen sind, während die Preise in diesem Zeitraum um lediglich 8 Prozent nach oben gingen. Die AHV-Renten wurden in jenen Jahren also stärker erhöht als die Preise, ihr Anstieg hat die Teuerung übertroffen.
Freilich kann man sich fragen, ob Pensionierte anders von Inflation belastet werden als andere Menschen – etwa, weil sie nicht die gleichen Güter kaufen wie der Rest der Bevölkerung. Doch das scheint kaum der Fall zu sein. Jackie Bauer, Vorsorgeexpertin bei der Grossbank UBS, sagt: «Rentnerinnen und Rentner werden von einer nur geringfügig tieferen Inflationsrate belastet als Erwerbstätige.» Ihre Aussage beruhe auf einer Schätzung anhand der Konsumausgaben, nachdem die Teuerung in der Schweiz nur für die Gesamtbevölkerung, nicht aber für einzelne Gruppen, erfasst werde.
Einen Unterschied mache der teurer gewordene Transport: «Bei Rentnerinnen und Rentnern fällt beispielsweise das Pendeln zwischen Wohnung und Arbeitsplatz weg», erklärt Bauer. Die Expertin sieht zwar, dass die Gesundheitsausgaben in der letzten Phase des Ruhestands markant steigen und damit das Budget belasten. Sie differenziert aber: «Das sind ganze Kostenblöcke, die hinzukommen. Sie haben mit der Belastung durch die Inflation nichts zu tun.»
Und um eben diese Inflation dreht sich die Politik seit Monaten. Ein Konzept ist in dieser Diskussion relevant: der Mischindex, der für die Anpassung der Renten verwendet wird und der dem Durchschnitt von Lohn- und Preisindex entspricht – ein Beispiel: Steigen die Löhne um 2 Prozent und erhöhen sich die Preise um 1 Prozent, so ergibt sich ein Mischindex von 1,5 Prozent.
Abkehr vom Mischindex
Dieser Index habe es, so die UBS-Vorsorgeexpertin, bewirkt: «Die AHV-Renten stiegen in den letzten Jahrzehnten stärker, als wären sie nur an die Teuerung gekoppelt gewesen. Den Rentnerinnen und Rentnern ist das Lohn- und Produktivitätswachstum zugutegekommen.»
Überlegen könnte sich die Politik, «ob sie vom Mischindex wegkommen und einen reinen Teuerungsausgleich einführen will». Bauer begründet: «Dadurch würde sich die Lücke in der AHV-Finanzierung tendenziell verkleinern, da die Löhne im Durchschnitt stärker gestiegen sind als die Teuerung.»
Der Schritt wäre gemäss der Fachfrau konsequent, da Rentnerinnen und Rentner ausserhalb des Erwerbslebens stünden – «es gibt keinen Grund, weshalb sie vom Produktivitätswachstum profitieren sollten.»
Der Vorschlag, die AHV-Renten nur noch an die Teuerung anzupassen, stösst in der Politik auf Widerstand. Der Mischindex habe sich bewährt, sagt Hannes Germann (SVP). «Über das Lohnwachstum sichert er die Renten in Jahren ohne Teuerung ab.»
Der Ständerat des Kantons Schaffhausen gibt zu bedenken: «In Jahren mit negativer Teuerung würden die Renten sinken.» Dies lehne er entschieden ab, und dafür werde es «nie und nimmer eine politische Mehrheit geben».
Martina Munz (SP) knüpft an die Ablehnung des vollen Teuerungsausgleichs für AHV-Renten an: «Jetzt sollten wir die Prämienverbilligung stärken. Das hilft den Menschen mit schmalem Budget, die von steigenden Gesundheitskosten besonders stark betroffen sind.»
«Wenn jemand arm ist, kann er oder sie Ergänzungsleistungen beziehen», sagt hingegen Bauer. Ihr ist bewusst, dass sich viele dafür schämen. Deswegen biete sich ein Systemwechsel an: «Das Sozialamt berechnet, wer Anspruch hat, und schreibt diese Menschen an – ähnlich wie bei der Prämienverbilligung.» Zudem könne der Teuerungsausgleich der Ergänzungsleistung jährlich, nicht wie heute zweijährlich, erfolgen. Gegen einen allzu starken Leistungsausbau spreche allerdings: «Stärkere Sozialsysteme schwächen die Eigenverantwortung. Und wer wenig Eigenverantwortung trägt, ruft rasch nach dem Staat.» Das sei teuer.
Kapital oder Rente?
Während der Bundesrat die Renten der ersten Säule in der Regel alle zwei Jahre anpasst, schreibt das Gesetz in der zweiten Säule keinen solchen Ausgleich vor. Dennoch können sich in dieser über die Zeit markante Vermögensverluste ergeben. Schon bei 2 Prozent Inflation schmilzt der Wert eines Rentenbetrags von 100 000 Franken innert zehn Jahren auf rund 82 000 Franken. Man kann sich mit seinem Geld also weniger leisten.
Gemäss Stephan Wyss, Experte beim Vorsorgedienstleister Prevanto, könnte ein Teuerungsausgleich in der zweiten Säule «durch einen tieferen Umwandlungssatz oder durch separate Lohnbeiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert werden». Das eine würde die Renten verringern, das andere wäre in der zweiten Säule systemfremd, so Wyss. Deshalb sei es unüblich, dass Pensionskassen den inflationsbedingten Kaufkraftverlust auffangen können.
Falls man wählen könnte, erklärt Wyss, wäre offen, wer besser fahren würde: jene, die sich für den Teuerungsausgleich entscheiden und einen tieferen Umwandlungssatz hinnehmen, – oder jene, die einen höheren Umwandlungssatz ohne Teuerungsausgleich wählen. «Die Antwort hängt von der individuellen Lebenserwartung und der künftigen Teuerung ab.»
Für Finanzplanungsexperte Iwan Brot ist klar: «Wer lebenslang eine Rente bezieht, wird bei anhaltender Inflation einen sukzessiven Kaufkraftverlust erleiden. Die reale Rente sinkt laufend.» Denn es gebe in der zweiten Säule keinen gesetzlich vorgeschriebenen Teuerungsausgleich, nur die Stiftungsräte der Pensionskassen könnten einen solchen freiwillig beschliessen.
Den Kaufkraftverlust, der durch sinkende Realrenten entsteht, könne man durch einen Kapitalbezug kompensieren – «sofern man das Geld anlegt und dabei langfristig eine Rendite erzielt, die höher als die Inflationsrate ist.» Es genügt laut dem Geldexperten somit nicht, mit der Inflation gleichzuziehen. Eine positive Differenz zwischen Rendite und Teuerungsrate sei notwendig, da bei Kapitalanlagen stets Gebühren und Ertragssteuern anfielen.
Weiter sagt Brot: «Sinnvoll sind Anlagen in Realwerte – Aktien, Immobilien, Rohstoffe. Schwankungen im Vermögen, die sich immer wieder einstellen können, muss man aushalten.» Man brauche einen langen Atem.
Jackie Bauer appelliert an die Eigenverantwortung. Jeder Einzelne könne über die dritte Säule etwas für seine Vorsorge und gegen den Kaufkraftverlust tun. Ausserdem schaffe ein sorgsamer Umgang mit dem Geld ein Polster gegen die Teuerung.
Ob das für das Gros der Bevölkerung machbar ist? Laut dem Bundesamt für Statistik zahlen drei von fünf Personen im Erwerbsalter in die Säule 3a ein. Offenbar wollen oder können sich das nicht alle leisten.