[Schaffhauser Nachrichten] «Und sonst unterzeichnen wir nicht»

Guy Parmelin (SVP), Ignazio Cassis (FDP) und Karin Keller-Sutter (FDP) erklären den Bundesratsentscheid zum Rahmenabkommen. BILD KEY
Die Bundesraete Guy Guy Parmelin (SVP), Ignazio Cassis (FDP) und Karin Keller-Sutter (FDP) erklären den Bundesratsentscheid zum Rahmenabkommen. BILD KEY

Der Bundesrat sagt «Ja, aber» zum Rahmenabkommen. Obwohl das «Aber» gross ist, gibt er sich optimistisch, dass die EU einlenkt.

Text Sven Altermatt, Maja Briner, Remo Hess

Guy Parmelin (SVP), Ignazio Cassis (FDP) und Karin Keller-Sutter (FDP) erklären den Bundesratsentscheid zum Rahmenabkommen. BILD KEY
Die Bundesraete Guy Guy Parmelin (SVP), Ignazio Cassis (FDP) und Karin Keller-Sutter (FDP) erklären den Bundesratsentscheid zum Rahmenabkommen. BILD KEY

BERN/BRÜSSEL. Zaudern, zögern, Zeit schinden. Mit diesen Attributen könnte man die Europa-Strategie des Bundesrats in den vergangenen Jahren beschreiben. Wenn man denn eine bundesrätliche Strategie erkennen will. Fast schon ostentativ vermied es die Regierung bislang, Stellung zum Rahmenabkommen mit der EU zu beziehen. Nun kam sie nicht mehr darum herum, sich zu äussern – und zwar so, wie es die Spatzen längst von den Dächern gepfiffen haben: Der Bundesrat sagt «Ja, aber» zum Rahmenabkommen.

Das Rahmenabkommen sei «in weiten Teilen im Interesse der Schweiz», erklärte Aussenminister Ignazio Cassis (FDP), als er gestern mit Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) und Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) vor die Medien trat. Die Landesregierung hat die Konsultation bei Parteien und Verbänden formell zur Kenntnis genommen. Das Resultat ist hinlänglich bekannt: So wie das Abkommen auf dem Tisch liegt, findet es keine Mehrheit. Der Bundesrat verlangt deshalb Klärungen und Präzisierungen von der EU.

Was will der Bundesrat? Der Bundesrat hat drei grosse Vorbehalte. Erstens will er, dass die Schweiz ihre Massnahmen zum Schutz der Löhne auf dem bisherigen Niveau halten kann. Zweitens will er die sogenannte Unionsbürgerrichtlinie, die EU-Bürgern in der Schweiz etwa weitere Rechte bei Sozialhilfe und Familiennachzug zugestehen könnte, auf jeden Fall vom Abkommen ausnehmen. Und drittens will er festhalten, dass Regeln für staatliche Beihilfen an Unternehmen nicht jene Bereiche betreffen dürfen, in denen die Schweiz keinen vertraglich abgesicherten Zugang zum EU-Binnenmarkt hat. Wenn in diesen Punkten eine Lösung gefunden werde, «dann werden wir unterschreiben», sagte Cassis. Und wenn nicht? Dann werde man nicht unterschreiben, machte der Aussenminister klar.

Seine Vorbehalte überbringt der Bundesrat der EU per Brief, adressiert an Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Man sei gewillt, in den drei strittigen Punkten «eine für beide Seiten befriedigende Lösung zu suchen», heisst es darin. Den Begriff «Nachverhandlungen» vermeidet der Bundesrat tunlichst. Lieber erinnert er Juncker daran, dass auch die Schweizer Stimmbürger noch ein Wort mitzureden haben; ein Urnengang sei so gut wie sicher. Seinerseits will der Bundesrat die Sozialpartner und die Kantone weiterhin eng einbinden. Ins Scheinwerferlicht rückt er zudem den Kampf gegen die Begrenzungs-Initiative der SVP. Sie will die Personenfreizügigkeit mit der EU kündigen. Bei einem Ja wäre das Rahmenabkommen wohl Makulatur. Die Kündigung würde den «ungeordneten Ausstieg aus dem bilateralen Weg» bedeuten, warnte Karin Keller-Sutter, ja sogar einen «Schweizer Brexit». Überhaupt war es gestern die FDP-Bundesrätin, die sich am pointiertesten äusserte. Man erwarte von der EU nun die Verlängerung der Börsenäquivalenz, sagte sie. «Wir haben alles dafür getan, das Verhältnis zur EU positiv zu gestalten.» Ende Juni endet die Gleichwertigkeitsanerkennung der Schweizer Börse. Auch das klare Nein zur Begrenzungs-Initiative will Keller-Sutter als Signal verstanden wissen, dass die Schweiz den bilateralen Weg fortsetzen will. Und erst im Mai habe das Schweizer Stimmvolk dafür gestimmt, die EU-Waffenrichtlinie zu übernehmen und das Steuersystem auf Druck Brüssels hin anzupassen.

Wie kommt das an? Mit seinem «Ja, aber»-Entscheid kann der Bundesrat viel Lob einheimsen – auch wenn sich die Akteure in den Details nicht einig sind. Die Stellungnahme des Bundesrats sei ein «wichtiges Zeichen» an die EU, lobte etwa die CVP. Und die FDP sprach von einem «deutlich positiven Signal», das die Regierung nach Brüssel sende. Die linke Seite wiederum ist froh, dass der Bundesrat zunächst die offenen Punkte klären will. Der Entscheid des Bundesrats mache den Weg frei für eine Lösung, welche die rote Linie Lohnschutz respektiere, schreiben die Gewerkschaften.

Die Wirtschaft ist ebenfalls zufrieden, will aber aufs Gaspedal drücken. Economiesuisse mahnt: «Weiteres Zuwarten birgt nur Risiken für den Wirtschaftsstandort Schweiz.» Anders die SVP: Sie hatte gestern zwar auch lobende Worte für den Bundesrat – da er das Abkommen nicht unterzeichnet hat. Und das soll er auch nicht tun, fordert die SVP. Kritik kommt von der EU-freundlichen Plattform Schweiz-Europa, der unter anderem die Operation Libero angehört. Der Bundesrat schiebe die Unterzeichnung hinaus und belaste damit das Verhältnis zum wichtigsten Partner der Schweiz, moniert sie. Leise Kritik kommt auch von der GLP. Präsident Jürg Grossen sagt, er bedauere es, dass der Bundesrat das Abkommen nicht ratifiziere. «Aber wir müssen realistisch sein: Derzeit gibt es im Parlament noch keine Mehrheit dafür», so Grossen. «Der Bundesrat hat den Karren so tief in den Dreck gefahren, dass es bereits ein Fortschritt ist, dass er positiv zum Rahmenabkommen Stellung bezieht.»

Und wie reagiert die EU? Die Reaktion aus Brüssel liess nicht lange auf sich warten. Als eine «insgesamt positive Entwicklung» beschrieb eine Sprecherin den Auftritt des Bundesrates. Die EU-Kommission werde den Brief aus Bern nun sorgfältig prüfen und zu «gegebener Zeit» antworten. Die Pressekonferenz live mitverfolgt hat Jean-Claude Juncker nicht. Er war auf einer Dienstreise in Kroatien. Doch auch so wusste er, was ihn erwartet. In den letzten Tagen fanden verschiedene Kontakte auf Beamtenebene statt. Bundeskanzler Walter Thurnherr ist gemäss SRF am Dienstag in Brüssel mit Martin Selmayr, dem Generalsekretär der EU-Kommission, zusammengekommen. Die Präzisierungen, die der Bundesrat jetzt fordert: Sie wurden offenbar genau vorbesprochen.

Es ist deshalb anzunehmen, dass die Antwort aus Brüssel schon bald vorliegen wird. Kommenden Dienstag tauschen sich die EU-Staaten auf Experten-Ebene aus. Am Mittwoch dürfte das Thema auf Botschafter-Ebene steigen. Es könnte sein, dass die EU den Ball so schnell zurückspielt, dass sich der Bundesrat noch vor Monatsende entscheiden muss. Damit würde auch die Drohkulisse mit dem Entzug der Börsenanerkennung bestehen bleiben. Das positivere Szenario sieht so aus, dass die EU der Schweiz nochmals Zeit bis Anfang Oktober gibt. Das letzte Wort könnten die EU-Finanz- und -Wirtschaftsminister bei ihrem Treffen kommende Woche haben.

Unklar ist, wie weit die EU-Kommission der Schweiz bei den Klarstellungen entgegenkommt. Dass sich das Beihilfeverbot vorerst nicht aufs Freihandelsabkommen von 1972 anwenden lässt, könnte man relativ einfach festhalten. Komplizierter wird es beim Ausschluss der Unionsbürgerrichtlinie. Alle Ausnahmen von dynamischer Rechtsübernahme sind im Abkommen aufgelistet. Würde die Unionsbürgerrichtlinie als neue Ausnahme hinzugefügt, käme dies einer Änderung des Vertragstexts gleich. Etwas, das Brüssel bis jetzt abgelehnt hat. Am schwierigsten wird es bei den «rechtlichen Sicherheiten» zum Erhalt des Lohnschutzes. Theoretisch könnte es formell ähnlich ablaufen wie beim Brexit: Im einem Brief versicherte die EU, dass der Verbleib von Grossbritannien in der Zollunion nur temporär sein wird. Solche Garantien sind nicht justiziabel, haben aber eine «rechtliche Qualität». Ob das den Schweizer Gewerkschaften reicht, ist eine andere Frage.

Viel Schaffhauser Lob – aus ganz unterschiedlichen Gründen

Bei den Schaffhauser Parlamentariern kommt das «Ja, aber» des Bundesrates zum Abkommen mit der EU gut an. Wo es jetzt am dringlichsten Zugeständnisse braucht, darüber scheiden sich die Geister.

Von Sidonia Küpfer

SCHAFFHAUSER. Die Schaffhauser Parlamentarier sind zufrieden mit dem Schritt des Bundesrates. Die Begründungen könnten allerdings unterschiedlicher kaum sein. Der parteilose Schaffhauser Ständerat Thomas Minder ist als scharfer Kritiker des Institutionellen Abkommens (InstA) bekannt. ­Insofern mag sein Kommentar zum «Ja, aber» des Bundesrates auf den ersten Blick überraschen: «Ich bin happy.» Die Erklärung folgt auf dem Fuss. Minder deutet die Aussagen der Regierung recht anders als die meisten Beobachter: «Ich kann zwischen den Zeilen ­lesen. Der Bundesrat hat heute zu diesem Abkommen Nein gesagt und es nicht unterschrieben. Weil wir elegant sind, sagen wir nicht ‹Nein›, sondern ‹wir müssen nochmals reden›. Für seinen Wahlkampf, räumt er ein, wäre es allerdings besser gewesen, der Bundesrat hätte unterschrieben. So sei das Thema bis im Herbst tot.

«Das regelt man nicht im Annex»

Dass der Bundesrat nun noch Zusatzerklärungen einholen wolle, findet Minder dem Gewicht dieses Vertrages nicht würdig: «Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen sind drei zentrale Brocken dieses Vertrages. Die kann man doch nicht im Annex ­regeln! Dafür braucht es ein neues Mandat des Parlamentes», sagt Minder. Er bleibt bei seiner grundsätzlichen Kritik. Das Rahmenabkommen sei ein Fehlkonstrukt. «Wir haben politische Differenzen mit der EU. Die muss man politisch und nicht juristisch lösen.» Und ein letzter Punkt: Ihm habe in den vielen Stunden Kommissionssitzungen niemand sagen können, was mit den im Vertrag erwähnten Ausgleichsmassnahmen gemeint sei. Man müsse wohl damit rechnen, dass dies auch die Aussetzung solcher Abkommen für mehrere Monate oder gar wenige Jahre ­bedeuten könne. «Spätestens dann legt sich auch Economiesuisse-Präsident Karrers Begeisterung für das Abkommen.»

SP-Nationalrätin Martina Munz ­begrüsst den Entscheid des Bundesrates: «Es ist gut, dass der Bundesrat Verhandlungen aufnehmen will. In dieser Form wäre das Abkommen auch nicht mehrheitsfähig», sagt sie zu den SN. Für die Sozialdemokratin ist insbesondere der Lohnschutz zentral. Die Personenfreizügigkeit müsse sozial abgefedert sein. Auf der anderen Seite sei auch wichtig, dass der Bundesrat ein klares Signal Richtung Brüssel sende, dass er das Abkommen grundsätzlich unterschreiben wolle. An der Pressekonferenz äusserte sich Bundesrätin Karin Keller-Sutter zuversichtlich, dass es zu einer Einigung mit den Sozialpartnern kommen werde. Diesen Optimismus teilt Munz: Sie könne sich vorstellen, dass die Gewerkschaften etwa bei der Acht-Tage-Regel doch bereit seien, sich zu bewegen. «Ich kann mir vorstellen, dass man mit digitalen Mitteln den Prozess beschleunigen kann, ohne die Kontrollen zu gefährden», nennt sie ein Beispiel.

Ständerat Hannes Germann (SVP).
Ständerat Hannes Germann (SVP).

Für Ständerat Hannes Germann (SVP) ist das InstA in seiner jetzigen Form «völlig inakzeptabel». Er wolle eine Lösung mit der EU, aber eine auf Augenhöhe. Wenn der Bundesrat in den wichtigsten Fragen Zusatzerklärungen erreiche, könne man weiter darüber diskutieren, sagt er und warnt gleichzeitig vor einseitigen Zusatzerklärungen des Bundesrates: «Die sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind, weil sie rechtlich nicht bindend sind.» ­Anders als etwa ein diplomatischer ­Notenaustausch. Besonders bei der Unionsbürgerrichtlinie müsse der Bundesrat sich wehren, sagt Germann. An seiner grundsätzlich kritischen Haltung hat sich aber nichts geändert: «Aus Schweizer Sicht gibt es keinen Bedarf für ein solches ­Abkommen. Die bilateralen Verträge sind massgeschneidert.» Zudem kritisiert er, dass der Bundesrat bei den Fragen rund um die Gerichtsbarkeit keinen Handlungsbedarf sieht: «Diese Baustelle hat der Bundesrat ­etwas schnell preisgegeben.»

«Druck aufrecht erhalten»

Nationalrat Thomas Hurter begrüsst den Schritt des Bundesrates. Die Regierung habe sich auch die richtigen Punkte vorgenommen. Für ihn sind die Fragen der Unionsbürgerrichtlinie und der staatlichen Beihilfen zentral. «Insbesondere die Beihilfen müssen im Sinne unserer Auslegung ­geklärt und fixiert werden», sagt Hurter. Standortförderung, Ansiedlungspolitik oder auch die Organisation der Kantonalbank seien für die Schweiz und den Kanton Schaffhausen zentral. Dann würde er dem InstA zustimmen, wären all diese Punkte geklärt? So weit will Hurter noch nicht ­gehen. «Derzeit ist es wichtig, den Druck auf allen Ebenen aufrecht zu erhalten.» Aber umgekehrt gelte: «Wenn es in diesen Punkten keine Klärung gibt, ist das Abkommen chancenlos.»