[Schaffhauser Nachrichten] Ungarischer Staatsbesuch in Neuhausen

Bundespräsident Ignazio Cassis hat gestern den ungarischen Präsidenten János Áder empfangen. Das Treffen ging vor der Kulisse des Rheinfalls in Neuhausen über die Bühne. Der Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen waren selbstredend das bestimmende Thema.

Rico Steinemann

Das Boot für die Fahrt zum Rheinfall steht bereit: Der ungarische Staatspräsident János Áder spricht auf der Treppe mit Bundespräsident Ignazio Cassis. BILD MELANIE DUCHENE

Der rote Teppich ist ausgerollt, die Flaggen der Schweiz und Ungarns stehen am Eingang des Stegs, der zum Schlössli Wörth hinüberführt. Die wenigen asiatischen Touristen schiessen, in dicken Kleidern eingepackt, daneben ihre Selfies mit dem Rheinfall im Hintergrund. Der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann (SVP) und die Schaffhauser Regierungspräsidentin Cornelia Stamm Hurter (SVP) tun es ihnen gleich. In ihrer Mitte haben sie Standesweibelin Brigitte Kern. Auch der Neuhauser Gemeindepräsident Felix Tenger (FDP) und der zweite Schaffhauser Ständerat Thomas Minder (parteilos) sind vor Ort.

Es ist kurz vor 11 Uhr, und der angekündigte Besuch des ungarischen Staatspräsidenten János Áder verzögert sich noch um einige Minuten. Auch Bundespräsident Ignazio Cassis ist schon da und unterhält sich mit seinem Staff. «Fa freddo, mamma mia!», entfährt es ihm. Und man kann ihm nachfühlen. Trotz Sonnenschein ist es an diesem Mittwochmorgen bitterkalt.

Es gibt nur ein Thema

Um 7 Uhr hatte der Bundespräsident in Zürich bereits den nationalen Solidaritätstag der Glückskette eröffnet. Er griff dabei höchstpersönlich zum Hörer und nahm die Spenden von einigen, sicher verdutzt reagierenden Anrufern entgegen. Die Schweiz sammelt an diesem Mittwoch für die Menschen in der Ukraine, über 37 Millionen Franken sollten bis abends um 20 Uhr zusammenkommen.

Der Krieg in der Ukraine, er ist auch hier das beherrschende Thema. Germann und Stamm Hurter geht die humanitäre Krise mitten in Europa nahe. Dass in der ganzen Schweiz um zehn Uhr morgens die Glocken gegen den Krieg geläutet haben, sei ein solidarischer Akt von grosser Wichtigkeit, sagt Germann. Auch Stamm Hurter betont, dass es darum gehe, Mitgefühl zu zeigen. «Es hat mich an die weltweite Schweigeminute nach dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 erinnert», sagt die Regierungspräsidentin. «Krieg in Europa ist für junge Generationen etwas Abstraktes.» Sie könne sich noch an die Bedrohung während des Kalten Krieges erinnern, aber die heutige Situation sei damit nicht vergleichbar.

Als der ungarische Präsident János Áder dann mit etwas Verspätung vorfährt, steigen die beiden Staatsoberhäupter und die lokale Politprominenz nach einer kurzen Begrüssung und dem obligaten Fototermin ins bereitstehende Boot und fahren Richtung Rheinfall. Danach geht es im Schlössli mit einem Mittagessen weiter. Doch warum empfängt Cassis seinen ungarischen Staatsgast in Neuhausen? Der Bundespräsident habe die Absicht, Besuche ausländischer Gäste in unterschiedlichen Regionen der Schweiz durchzuführen, heisst es dazu seitens des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten. So soll einerseits die Vielfalt der Schweiz gegen aussen sichtbar, andererseits die Aussenpolitik schweizweit erlebbar gemacht werden.

«Eine riesige Herausforderung»

Ungarn und die Schweiz haben eine lange Tradition des bilateralen Austauschs. Prägend dafür waren die Ereignisse 1956, als die Schweiz nach dem von der Sowjetarmee niedergeschlagenen Aufstand gegen den Kommunismus in Ungarn rund 12 000 ungarische Flüchtlinge aufnahm. Nach dem Mittagessen beantwortet Cassis auf der Terrasse des Schlössli noch einige Fragen. Klar, dass der Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen, insbesondere auf den direkten Nachbarn Ungarn, das Hauptthema war, das der Bundespräsident mit seinem Amtskollegen besprochen hat. «Wir haben viel über die Flüchtlinge des Krieges gesprochen. Rund 200 000 Menschen aus der Ukraine sind bereits in Ungarn. Prognosen gehen davon aus, dass es fünfmal so viele werden könnten. Das ist eine riesige Herausforderung.» Cassis zieht einen Vergleich mit der Schweiz, die eine ähnlich grosse Bevölkerung hat wie Ungarn. «Stellen Sie sich vor, was das für die Schweiz heissen würde, wenn innerhalb von zwei, drei Monaten eine Million Menschen zu uns kommen würde?» Man habe aber ebenso darüber diskutiert, wie ein zukünftiger Frieden in Europa aussehen und was der Konflikt für die Sicherheitsarchitektur des Kontinents bedeutet. Auf die Frage, ob es in der Flüchtlingsthematik eine Zusammenarbeit zwischen Ungarn und der Schweiz gebe, antwortet Cassis: «Ungarn erhält von der Kohäsionsmilliarde rund 90 Millionen Franken für Projekte, die noch nicht definiert sind. Falls sie jetzt Bedürfnisse haben, diese Gelder zu nutzen, dann könnte die Schweiz Hand dazu bieten.»

Und wie steht der Bundespräsident dazu, dass das EU-Mitglied Ungarn im letzten Bericht des UNO-Menschenrechtsrates schlechte Noten bekommen hat? Bemängelt werden darin der Umgang mit Migranten, die mangelnde Unabhängigkeit der Presse und die Haltung gegenüber Homosexuellen und Transgender-Menschen. Cassis sagt: «Die bilateralen Beziehungen zwischen Ungarn und der Schweiz sind gut. Gerade deswegen können wir auch über die erwähnten kritischen Aspekte diskutieren. Und das machen wir auch.»

Neben der unmittelbaren humanitären Hilfe engagiere sich die Schweiz weiterhin diplomatisch für die Lösung des Konflikts, wie Cassis zudem betont. «Das geschieht hinter den Kulissen, wie es für die Diplomatie üblich ist. Denn wir haben Beziehungen zu Russland und der Ukraine.» Es gelte nun ein erstes wichtiges Ziel zu erreichen: einen Waffenstillstand.

 

Bundespräsident Ignazio Cassis spricht mit Sek-Klasse in Neuhausen

Bundespräsident Ignazio Cassis hört das Glockengeläut in Neuhausen. BILD KEY

Die beiden Sek-Klassen des Neuhausener Schulhauses Rosenberg stehen schon auf dem «Platz für alli» und warten, als Bundespräsident Ignazio Cassis in seiner dunklen Limousine vorfährt. Ebenfalls anwesend: die Schaffhauser Regierungspräsidentin Cornelia Stamm Hurter, Kantonsrat Pentti Aellig (beide SVP), die beiden Ständeräte Thomas Minder (parteilos) und Hannes Germann (SVP) sowie der Neuhausener Gemeindepräsident Felix Tenger (FDP). Cassis steigt aus, begrüsst die lokalen Politiker und wendet sich dann den wartenden Schulklassen zu. Der Bundespräsident erklärt, dass er bald den ungarischen Staatspräsidenten treffen werde und diese Treffen normalerweise in Bern stattfinden. «Wer von euch war schon mal in Bern?», fragt er in die Runde. Und kann sich einen Witz auf Kosten der Berner Gemütlichkeit nicht verkneifen. «Es ist schön dort, aber die Menschen sind etwas langsam.» Er erklärt den Kindern, warum bald die Glocken der nahen Kirche läuten werden, und sagt, «dass der Krieg eine ganz üble Geschichte, aber leider die Realität ist.» Solidarität sei eine wichtige Sache, und es gehe bei diesem nationalen Sammeltag der Glückskette darum, möglichst viel Geld zu sammeln für die Menschen in der Ukraine. Als er die Schülerschar ermuntert, ihm Fragen zu stellen, streckt ein Mädchen auf und stellt eine Frage, die der Bundespräsident so wohl nicht erwartet hätte: «Ist die Schweiz nach dem Sanktionsentscheid überhaupt noch neutral?» Cassis versichert ihr, dass die Neutralität der Schweiz nach wie vor intakt sei. Und hört sich kurz darauf inmitten der Schülerinnen und Schüler andächtig das Glockengeläut an . (ris)