Volksinitiativen, die dem Völkerrecht widersprechen, sorgen nicht erst seit dem Minarettverbot für Diskussionsstoff. Im Parlament wird über Auswege aus dem Dilemma diskutiert.
von Eveline Rutz
Nach dem Ja zur Minarett-Initiative stellt sich die Frage, ob diese überhaupt umgesetzt werden kann. Klarheit werden wohl Gerichte schaffen. Dazu braucht es allerdings erst eine Beschwerde. Muslimische Gemeinschaften, deren Baugesuch abgelehnt wird, können ans Bundesgericht gelangen und ihre Beschwerde gegebenenfalls bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen. Kommen die Richter zum Schluss, dass die Schweiz Völkerrecht verletzt, muss diese reagieren. Sie kann das Verbot nochmals zur Diskussion stellen oder betroffene Abkommen wie die Menschenrechtskonvention kündigen. Die Abstimmung vom Sonntag offenbart ein Dilemma, das bereits bei der Verwahrungs-Initiative und bei der Initiative «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» deutlich wurde. Die Schweiz ist direktdemokratisch organisiert und hat den Willen des Volkes zu respektieren. Zugleich ist sie an Grundrechte und internationale Abkommen gebunden.
Wortgetreu umsetzen
«Man hätte die Anti-Minarett-Initiative für ungültig erklären müssen», sagt Daniel Vischer (Grüne/ZH). «So wird das Volk verschaukelt – die direkte Demokratie wird diskreditiert.» Er hat im Parlament den Vorstoss eingereicht, dass Initiativen nur noch zugelassen werden, wenn sie sich wortgetreu umsetzen lassen. Bislang werden nur Vorlagen für ungültig erklärt, die gegen zwingendes Völkerrecht wie das Genozid- oder das Folterverbot verstossen. Wird weiter gefasstes Völkerrecht verletzt, muss eine Vorlage dem Volk vorgelegt werden. «Das macht keinen Sinn», sagt Andreas Gross (SP/ZH). «Abstimmen macht nur Sinn, wenn man auch verschiedene Optionen hat.» Im März hat der Nationalrat Vischers Vorstoss mit 96 zu 72 Stimmen gutgeheissen. Das Geschäft liegt nun bei der Staatspolitischen Kommission des Ständerats, die es jedoch noch nicht behandelt hat. «Im Zweifelsfall sollte man eine Initiative dem Volk vorlegen», sagt Kommissionsmitglied Peter Briner (FDP/SH). Gleicher Meinung ist Urs Schwaller (CVP/FR). «Ich fände es falsch, wenn man weniger Initiativen zulassen würde.» Vielmehr müssten im Vorfeld einer Abstimmung die Konsequenzen deutlicher aufgezeigt werden. Man müsse klar kommunizieren, was es etwa bedeute, wenn Völkerrecht verletzt werde. «Es wäre falsch, das Volk weniger zu befragen, man sollte es aber klarer befragen.» Grundsätzlich sei es zu begrüssen, dass die Kriterien zur Beurteilung von Volksinitiativen nun diskutiert würden.
Oder soll ein Gesetz nachträglich auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung oder internationalem Recht geprüft werden? Soll die Schweiz eine Verfassungsgerichtsbarkeit (siehe Kasten) umsetzen? «Wenn diese auf Volksinitiativen eingeschränkt wird, kann ich mir das vorstellen», sagt Vischer.
«Zutiefst undemokratisch»
«Eine Verfassungsgerichtsbarkeit würde die Demokratie schwächen, sagt hingegen Hannes Germann (SVP/SH), sie sei «zutiefst antidemokratisch». «Sie würde es verunmöglichen, im Land etwas zu bewegen.» Zuweilen, wie im Fall der Verwahrungs-Initiative, fehle es schlicht am politischen Willen, eine Vorlage umzusetzen. «Das Volk muss immer das letzte Wort haben», findet auch Hans Fehr (SVP/ZH). Alles andere komme einem Abbau von Volksrechten gleich. Werde ein Gesetz im nachhinein für ungültig erklärt, fühle sich das Volk nicht mehr ernst genommen. Schwaller bezweifelt, dass Richter Volksinitiativen besser beurteilen können als das Parlament: «Es geht um die politische Verantwortung, die man nicht abschieben kann.»