
Kein Rückzug aus dem EGMR, aber Strassburg muss über die Bücher. Ein guter Entscheid des Ständerates. Bewegung kommt in die Asyl- und Zuwanderungsdebatte. Es fehlen Nägel mit Köpfen.
Hannes Germann

Die Herbstsession ist vorüber. Politisches Durchatmen oder gar einige Ferientage? Fehlanzeige. Seit Sonntagabend bin ich als Mitglied der Schweizer Delegation beim Europarat engagiert, am Sitz zahlreicher europäischer Institutionen. Dazu gehören der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oder das EU-Parlament, dessen Sessionen alternierend in Brüssel und Strassburg stattfinden. Oder eben der Europarat, der viermal jährlich eine jeweils einwöchige parlamentarische Versammlung (PVER) abhält. Der Zufall will es, dass die vierte Woche just auf die Herbstsession der Eidgenössischen Räte folgt.
Der Europarat feiert in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen, wir haben 2023 unsere 60-jährige Mitgliedschaft gefeiert. Nach dem Ausscheiden Russlands gehören dem Europarat noch 46 Staaten an. Die Kernaufgaben des Europarates leiten sich aus den folgenden drei Pfeilern ab: Schutz und Gewährleistung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Kein Wunder also, dass auch in dieser Session die meisten Berichte und Traktanden in Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg stehen.
Bei seinem ersten Auftritt als Generalsekretär im Plenum des Europarates stellte Alain Berset die breite Palette an Menschenrechtsverletzungen, namentlich im Ukrainekrieg, ins Zentrum seiner Ausführungen. Das Engagement und die Solidarität mit den Opfern dürften auf keinen Fall nachlassen. Womit er breitesten Sukkurs findet, auch was die Bedeutung des EGMR betrifft. Insgesamt ein gelungener Einstieg, auf den unser Land stolz sein darf.
Häufige Themen sind auch die Berichte zur Medien- und Meinungsfreiheit. Zu den Höhepunkten gehört die Anhörung von Julian Assange in der Justizkommission. Für die einen ein Held mit tragischer Geschichte (14 Jahre Haft, Hausarrest im UK und damit Zwangstrennung von Frau und Kindern). Für die anderen ist er schlicht ein Landesverräter. Seine Äusserungen zu Medien- und Meinungsäusserungsfreiheit kann man teilen. Allerdings sind der Medienfreiheit dann Grenzen gesetzt, denn sie ist immer auch mit Verantwortung gepaart.
Kaum ein Thema ist hier in Strassburg das Klima-Urteil des EGMR gegen die Schweiz, das in grünen Kreisen bejubelt, aber bei uns aus guten Gründen infrage gestellt wird. Der Ständerat ist zwar dem Antrag meines Ratskollegen Jakob Stark auf Kündigung der viel zu weit ausgelegten Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht gefolgt, obwohl alle in der EMRK geschützten Menschenrechte ohnehin in der unserer Bundesverfassung verankert sind. Dafür hat der Ständerat den Bundesrat mit beeindruckender Mehrheit dazu verpflichtet, in Strassburg vorstellig zu werden. Denn der EGMR hat seine Kompetenzen zum x-ten Mal zu weit ausgelegt, beim Urteil zu den Klimaseniorinnen aber massiv überschritten.
Hoch erfreulich ist die souveräne Wahl von Oberrichterin Susanne Bollinger (SVP/SH) ans Bundesgericht. Ansonsten ist der Rückblick auf die Herbstsession bezüglich Entscheidungsfreude nicht wirklich ein Highlight.
Ein Teil der Vorstösse der SVP mit dem Ziel, Asylmissbrauch und Zuwanderung zu reduzieren, haben zwar im Nationalrat eine bürgerliche Mehrheit gefunden. Der Ständerat ist nun allerdings einem Ordnungsantrag gefolgt. So wird sich nun zunächst die Staatspolitische Kommission (SPK-S) mit den Asylvorstössen befassen. Derweil bleibt das Hauptproblem bestehen: die zu hohe Zuwanderung, die unsere Infrastruktur und Instanzen zunehmend überfordert. Affaire à suivre.