Eltern, die ein Kind verloren haben, haben bislang keinen Anspruch auf gesetzlichen Urlaub. Das Parlament will das ändern. Eine Schriftstellerin macht mit ihrer eigenen Geschichte mobil.
Von Nina Fargahi
Sie kannte die Zahlen, doch sie ahnte nicht, dass es sie auch treffen könnte. Angela Notari erlitt vor drei Jahren zweimal eine frühe Fehlgeburt. Beide Mal weit vor dem sechsten Monat – so endet jede vierte Schwangerschaft in der Schweiz.
Diese Erlebnisse politisierten die Schriftstellerin: Sie machte sich im Tessin im Kantonsrat für einen dreitägigen bezahlten Sonderurlaub auch nach einer frühen Fehlgeburt stark. Die Forderung fand eine Mehrheit im Tessiner Parlament, die zu einer Standesinitiative führte. Am Dienstag beugt sich der Ständerat über diesen Vorstoss.
Nach heutigem Recht haben Frauen, die ihr Kind vor der 23. Woche verlieren, keinen Anspruch auf freie Tage. Sie haben auch keinen Mutterschaftsurlaub, werden bei Lohnausfällen nicht voll entschädigt und erhalten keinen Schutz bei einer Kündigung. Die Eltern haben kein Recht auf ein Begräbnis.
Dies, obwohl hierzulande etwa 20’000 Frauen pro Jahr eine Fehlgeburt erleiden. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, weil bei Fehlgeburten keine Statistik erfasst wird. Bei den Totgeburten nach dem sechsten Monat sind die Zahlen genauer, denn Totgeburten sind meldepflichtig: Es trifft im Schnitt zwei Familien pro Tag. Bei 4 von 1000 Geburten kommt das Kind tot zur Welt.
Gesundheitskommission zeigt sich offen
Angela Notari erinnert sich an den 21. Mai 2019. Sie war in der zehnten Woche schwanger. Die Wohnung hatte sie vor ihrem inneren Auge bereits umgekrempelt, sich vorgestellt, wo die Wiege hinkommt. «Dass etwas mit dem Baby nicht stimmte, war ein Schock.» Es spielte keine Rolle, dass die Schwangerschaft noch «nicht weit» fortgeschritten war. «Sobald der Schwangerschaftstest zwei Striche zeigt, geht es los», sagt sie. Damit meint sie den emotionalen und körperlichen Bezug zum werdenden Kind.
Nun befasst sich der Ständerat mit der Frage, ob es in der Schweiz einen bezahlten Urlaub nach einer Fehl- oder Totgeburt vor der 23. Schwangerschaftswoche braucht. Die kleine Kammer will dem Tessiner Vorstoss zwar keine Folge leisten, ist aber offen für das Ansinnen. Sie wird ihrer Gesundheitskommission folgen, die den Bundesrat einstimmig damit beauftragt hat, den dreitägigen Trauerurlaub zu prüfen. Die Kommission ist der Meinung, dass die Auswirkungen solch erschütternder Ereignisse besser berücksichtigt werden müssen.
Die Tessiner betonen in ihrer Standesinitiative, dass eine bezahlte Auszeit «ein erster Schritt zur angemessenen Anerkennung eines Verlusts ist, mit dem viele Familien konfrontiert sind und der heute häufig ohne Unterstützung zu bewältigen ist».
So sieht es auch SVP-Ständerat Hannes Germann, Mitglied der Gesundheitskommission. Er und seine Frau erlitten im fünften Monat eine Fehlgeburt. Er sagt: «So ein Ereignis ist Strafe genug, es braucht hier eine schnelle Lösung.» Zudem sei ein Sonderurlaub gesamtwirtschaftlich gesehen irrelevant. «Gute Arbeitgebende bewilligen schon heute eine Auszeit, doch oft leiden die Betroffenen im Stillen», so der SVP-Politiker.
Notari geht noch einen Schritt weiter und sagt, dass es den Unternehmen sogar zugutekäme, wenn sie den Angestellten bei diesen schwierigen Erlebnissen entgegenkämen. «Zeit zum Trauern zahlt sich für die Unternehmen aus», ist sie überzeugt. Das Erlebte könnte verarbeitet werden, was für die Gesundheit und daher auch für die Leistungsfähigkeit der Angestellten mittel- und langfristig nicht zu unterschätzen sei. Zudem würden die Mitarbeitenden eine bessere Bindung zu den Arbeitgebenden und den Unternehmen aufbauen, wenn sie bei derart einschneidenden Lebensereignissen unterstützt würden.
«Ein Kindsverlust ist keine Krankheit»
Eine Vorreiterrolle hat diesbezüglich Neuseeland. Das Land hat 2021 unter Premierministerin Jacinda Ardern eine Elternzeit nach einer Fehlgeburt – auch wenn sie in den ersten Wochen passiert – eingeführt. Die Auszeit gilt nicht nur für die Frau, sondern auch für ihren Partner oder ihre Partnerin.
Ganz anders in der Schweiz: Sogar bei einer Totgeburt nach der 23. Woche muss der Vater am nächsten Tag wieder bei der Arbeit erscheinen. Diese Regelung wurde mit der Annahme des Vaterschaftsurlaubs eingeführt.
«Wir müssen als Gesellschaft wieder lernen, mit Trauer umzugehen», sagt Anna Margareta Neff Seitz, seit 20 Jahren Hebamme in Bern und Leiterin der Fachstelle Kindsverlust.ch. Sie hat sich auf das Thema Fehl- und Totgeburten spezialisiert. Im Gespräch beschreibt sie sich als naturnahen Menschen, weil sie auf einem Bauernhof aufgewachsen ist. «Zur Natur gehört auch das Sterben», sagt sie. Eine Fehlgeburt treffe jeden Menschen anders, aber «ein Einschnitt in der Biografie» sei dieses Ereignis immer.
Heute empfiehlt sie den Betroffenen, sich krankschreiben zu lassen. Das könne allerdings keine nachhaltige Lösung sein: «Ein Kindsverlust ist keine Krankheit und muss gewürdigt werden.» Dass eine Fehlgeburt noch immer ein gesellschaftliches Tabu sei, hänge auch damit zusammen, «dass wir den Tod möglichst weit weg von uns schieben». Und dass das Gesetz die werdenden Mütter nicht ab dem ersten Tag anerkenne.
Auch Notari teilt diese Auffassung. «Je mehr ich darüber spreche, desto mehr Betroffene wenden sich an mich, die die gleiche Erfahrung gemacht haben – und im stillen Kämmerlein leiden.» Sie hofft auf eine baldige Gesetzesänderung.