[Schaffhauser Nachrichten] «Chiesa hat eine Herkules-Aufgabe vor sich»

Nationalrat Thomas Hurter (l.) und Ständerat Hannes Germann stecken die Köpfe während einer Session der vergangenen Legislatur zusammen. BILD KEY

Am Samstag bestimmen die SVP-Delegierten ihren neuen Parteipräsidenten. Mit Marco Chiesa hat die Findungskommission nur einen einzigen Kandidaten vorgeschlagen. Schaffhauser Parteikollegen nehmen eine Einschätzung vor – dies nicht ohne Kritik zu üben.

Reto Zanettin

Mitte Juli unterzog der «Tages-Anzeiger» ein gutes Dutzend Kandidatinnen und Kandidaten einer Eignungsprüfung. Niemand von ihnen hat das Rennen um das SVP-Präsidium bis heute

Der eine kommt, der andere geht. Marco Chiesa (r.) schickt sich an, das SVP-Präsidium von Albert Rösti zu übernehmen. BILD KEY

durchgestanden. Dafür hat die Findungskommission einen Namen ins Spiel gebracht, dessen Träger nun als designierter Parteipräsident gehandelt wird. Der 45-jährige Marco Chiesa soll Nachfolger von Albert Rösti an der Spitze der nach wie vor wählerstärksten Partei der Schweiz werden. Hannes Germann, der Schaffhauser SVP-Ständerat, kennt Chiesa seit dessen Einzug ins «Stöckli» bei den Wahlen 2019 aus eigenem Erleben. Nationalrat Thomas Hurter, ebenfalls von der SVP, kennt den Tessiner aus der gemeinsamen Zeit in der grossen Kammer.

Sie kennen Marco Chiesa aus dem ­Ständerat. Wie stehen Sie persönlich zu ihm, wie schätzen Sie ihn ein?

Hannes Germann: Marco Chiesa hat sich im Ständerat sehr gut eingelebt und stets bemüht, die Gepflogenheiten des Gremiums zu achten. Insbesondere aber bereichert er die SVP-Gruppe, indem er den italienischsprachigen Teil der Schweiz vertritt.

Thomas Hurter: Ich habe einen guten Kontakt zu ihm, er ist mir sehr sympathisch. In seiner Nationalratszeit sass er direkt vor mir. Dadurch kamen wir oft ins Gespräch. Von dem her habe ich einen sehr guten Zugang zu ihm.

Warum ist Chiesa der bestmögliche Präsident für die SVP, und warum ist er besser geeignet als Alfred Heer und Andreas Glarner?

Germann: Das müssen Sie die Findungskommission fragen. Es ist ihr Geheimnis, und nur sie weiss, warum sie Marco Chiesa, Andreas Glarner und Alfred Heer nicht zusammen zur Wahl vorgeschlagen hat. Das hat mich doch überrascht, zumal Chiesa – im Unterschied zu Glarner und Heer – nicht unbedingt das verkörpert, was man gemeinhin von einem SVP-Präsidenten erwarten würde. Glarner wirkt oft provokant, Heer hat sich als Präsident der Zürcher SVP bereits bewiesen.

Hurter: Diese Frage kann ich nicht beantworten, weil ich nicht in der Findungskommission gewesen bin. Aber eines kann ich sagen. Ich finde die Präsidentensuche der SVP keine Meisterleistung. Das hat nichts mit der Person von Marco Chiesa zu tun. Das ganze Verfahren dauerte einfach sehr lange, und vieles war unklar. Ich weiss auch nicht, ob Alfred Heer seine Kandidatur zurückzieht. In jedem Fall wichtig ist, dass die SVP wieder eine Persönlichkeit an der Spitze hat, die entscheidet, Meinungen zulässt und Ideen aufgreift. Daran sollten wir arbeiten. Ja – zudem sollte ein Präsident auch eine gewinnende Persönlichkeit sein.

Was unterscheidet Marco Chiesa von Albert Rösti?

Germann: Die beiden ähneln sich. Beide wirken auf mich ausgesprochen überlegt, sie können differenziert argumentieren und geniessen eine hohe Akzeptanz innerhalb der Fraktion. Albert Rösti hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Dann gingen im letzten Herbst die Wahlen verloren. Die Verantwortung dafür wurde ihm zugeschoben. Schliesslich trat er zurück. Insofern hoffe ich, dass Marco Chiesa nicht verheizt wird.

Hurter: Das kann ich zurzeit noch zu wenig beurteilen. Marco Chiesa ist noch nicht lange in der eidgenössischen Politik dabei. Darum fehlt es ihm meiner Auffassung nach an Know-how und Erfahrung wie auch am Auftritt, den Albert Rösti und vor ihm Toni Brunner gehabt haben.

Im Juli war noch ein gutes Dutzend Personen im Rennen. Nun steht nur noch Marco Chiesa zur Wahl. Ist dieses Einerticket nicht zu wenig für eine Partei, die sonst Wert auf eine demokratische Willensbildung legt?

Germann: Bei anderen Parteien sieht es gleich aus, sie stellen oft auch nur noch einen Kandidaten zur Wahl. Bei der SVP hat man im Vorfeld immerhin erfahren und mitverfolgen können, wer überhaupt alles im Rennen war. Es waren ja rund ein Dutzend Leute. Wie der Prozess bis heute gelaufen ist und warum nun Chiesa als Einziger zur Wahl empfohlen wird, kann ich nur schwer nachvollziehen.

Hurter: Dieses Argument kann man auch umkehren. Die Partei hat sich mit vielen Kandidaten über lange Zeit auseinandergesetzt. Nun haben wir genug Willensbildung betrieben und sollten zu einem Entscheid kommen. Manchmal, so schien es mir, kamen Namen ins Spiel, bei denen ich mich fragte, wie seriös der Auswahlprozess ist und vor welchem Hintergrund diese Per- son ins Rennen geschickt wurde.

Wer könnte als Sprengkandidat doch noch eine Kampfwahl erwirken?

Germann: Ich würde es schätzen, wenn es zu einer echten Wahl kommen würde. Alfred Heer hätte ich mir ohnehin bestens als Präsidenten vorstellen können, weil er viel Erfahrung hat, sprachgewandt und unabhängig ist. So hätten wir zwischen zwei Kandidaten wählen können.

Hurter: Das ist schwer zu sagen, besonders auch, was Alfred Heer betrifft. Zu ihm muss ich allerdings etwas sagen. Er ist eine ausgesprochen intelligente Person, spricht mehrere Fremdsprachen und hat ein sehr feines politisches Gespür. Ausserdem hat er Erfahrung, nachdem er die Kantonalpartei in Zürich geleitet hat. Ob er sei- ne Kandidatur aufrechterhält, weiss ich nicht.

Chiesa machte eine Legislatur als Nationalrat mit, übernahm 2018 mit Céline Amaudruz das SVP-Vizepräsidium und politisiert seit letztem Herbst im Ständerat. Nun soll er SVP-Präsident werden. Geht das nicht alles viel zu schnell für eine konservative Partei?

Germann: Es spricht nichts gegen einen steilen Aufstieg. Im Gegenteil. Chiesa hat politisches Talent und hat es sich verdient. Nun aber hat er eine Herkules-Aufgabe vor sich. Er soll sein Ständeratsmandat und das SVP-Präsidium unter einen Hut bringen. Dabei ist das Amt in der kleinen Kammer für sich genommen schon eine grosse Herausforderung. Hier muss man schwimmen, während man sich im Nationalrat eher auch mal treiben lassen kann.

Hurter: Doch, das ist schon ein sehr steiler Aufstieg. Es wird sich weisen, ob es eine gute Idee war, ihn zum jetzigen Zeitpunkt als Parteipräsidenten vorzuschlagen. Dennoch bleibe ich dabei, es ist wichtig, dass die SVP wieder jemanden an der Spitze hat – egal, ob Chiesa nun ausreichend Erfahrung hat oder nicht. Das Geplänkel in den letzten Monaten empfand ich als ziemlich aufreibend.

Marco Chiesa leitete ein Altersheim und hat eine Ader für soziale Fragen. Inwiefern könnte seine Haltung helfen, wenn es um Fragen wie die Reform der AHV/Sozialwerke geht?

Germann: Ich freue mich, dass Chiesa auch die soziale Seite abdeckt. Unter Rösti haben wir parteiintern schon eine AHV-Reform aufgegleist und eine bürgerlich geprägte Lösung gefunden, die ich für mehrheitsfähig halte. Darauf kann der neue SVP-Präsident aufbauen.

Hurter: Ich will es nicht einmal auf ein bestimmtes Thema zuspitzen. Ich finde grundsätzlich, unsere Partei sollte in gewissen Themen wieder stärker werden, ohne natürlich in unseren Kernbereichen nachzulassen. Wir haben eine beachtliche Breite an Wissen unserer Mitglieder. Dieses Wissen muss wieder vermehrt zum Zuge kommen.

Warum ist Chiesa der richtige Mann für den Abstimmungskampf um die Begrenzungsinitiative?

Germann: Im Hinblick auf die Begrenzungsinitiative ist Chiesa eine Schlüsselfigur. Als Tessiner ist er selbst unmittelbar von der Zuwanderung betroffen und weiss, was es heisst, wenn Tag für Tag 65 000 bis 70 000 Grenzgänger in die Schweiz zur Arbeit kommen. Das verleiht ihm eine hohe Glaubwürdigkeit in den Augen der EU-kritischen Parteibasis.

Hurter: Chiesa hat direkt so gut wie nichts mit dieser Abstimmung zu tun. Albert Rösti bleibt vorderhand noch Präsident. Wenn man Chiesa für den Abstimmungskampf hätte einspannen wollen, hätte man ihn früher an Bord holen müssen. Grundsätzlich sind die Tessiner nahe am Gegenstand der Begrenzungsinitiative. Insgesamt ist Chiesa eher der Mann für die Zeit nach dem Volksentscheid.

Der designierte SVP-Präsident stammt aus der lateinischen Schweiz, spricht neben Italienisch auch Französisch und Deutsch. Wird es ihm gelingen, die Partei in der Westschweiz zu stärken, ohne in der Deutschschweiz Wähleranteile zu verlieren?

Germann: Wir reden von einer Herausforderung, mit welcher sich bereits Albert Rösti auseinandersetzte. Jede Region hat ihre Eigenarten. Als Lateiner, der ganz passabel Deutsch spricht, hat Marco Chiesa meiner Auffassung nach einen Vorsprung gegenüber seinen Vorgängern, insbesondere im Vergleich mit Toni Brunner, dessen Französisch- und Italienischkenntnisse Lücken aufwiesen.

Hurter: Ich will die einzelnen Regionen nicht gegeneinander ausspielen. Dennoch ist Chiesa im Tessin bekannter als in der Deutschschweiz, das ist völlig klar. Deshalb wird er eine Nachholaufgabe zu bewältigen haben. Er muss schauen, dass er zu Auftritten und Bekanntheit in der Deutschschweiz kommt.

Warum unterstützen Sie den Tessiner – aus Überzeugung oder weil Sie keine andere Wahl haben?

Germann: Ich sehe Marco Chiesa als Hoffnungsträger für die Partei. Aber ich hätte auch Alfred Heer unterstützt, wenn er sich zur Verfügung gestellt hätte. Auch er spricht mehrere Sprachen – nicht nur die Landessprachen, sondern etwa auch Englisch und Spanisch.

Hurter: Am nächsten Samstag habe ich einen Arbeitseinsatz und kann deswegen nicht an der Wahl teilnehmen. Ich würde mich erst vor Ort entscheiden, je nachdem ob Alfred Heer doch antritt und wer sich wie gut präsentiert.

Danke für das Gespräch, Herr Germann und Herr Hurter.