Auch die Demokratie musste der Coronakrise Tribut zollen. Schaffhauser National- und Ständeräte skizzieren, wie die Legislative in ausserordentlichen Lagen mehr Mitsprache erhalten könnte.
Reto Zanettin
BERN/SCHAFFHAUSEN. Seit Wochen regiert der Bundesrat praktisch im Alleingang, wie dies gemäss der Bundesverfassung und dem Epidemiengesetz in Notlagen möglich ist. Die Landesregierung hat nicht nur Dutzende von Milliarden Franken zur Unterstützung der Wirtschaft freigemacht, sondern auch die Abstimmung vom 17. Mai auf den 27. September verschoben oder Versammlungen von mehr als fünf Personen untersagt. Unter derartigen Einschränkungen leide die Demokratie, meinen manche Politiker, selbst wenn das Parlament in seiner ausserordentlichen Session beim einen oder anderen Geschäft die Reissleine hätte ziehen können. Einer dieser Politiker ist Alfred Heer.
Der SVP-Nationalrat aus dem Kanton Zürich sagte in der «Arena» des Schweizer Fernsehens vom letzten Freitag dramatisch Klingendes. Die Schweiz gleiche zurzeit faktisch einer Diktatur, erklärte Heer. Doch inwiefern könnte die Legislative in ausserordentlichen Lagen wie der aktuellen gestärkt werden? Die Schaffhauser Bundesparlamentarier sprachen mit den SN über ihre Ideen und darüber, wie sie die Leistung des Bundesrates während der Coronakrise beurteilen. Ständerat Thomas Minder war für diese Zeitung nicht erreichbar.
«Alle zwei Wochen tagen»
Sie habe nie den Eindruck gehabt, der Bundesrat handle eigenmächtig, sagt SP-Nationalrätin Martina Munz. Diese Gefahr bestehe jedoch. Die Parlamentarierin aus Hallau denkt, die Landesregierung sei in den letzten Wochen gewissenhaft mit ihrer Machtfülle umgegangen. «Es war richtig, dass der Bundesrat die Verantwortung übernommen hat. In einer ausserordentlichen Lage wie dieser muss die Exekutive diese Kompetenz haben und rasch handeln.» Insofern gelte ihre Kritik eher dem Parlament. «Es hat sich selbst aus dem Spiel genommen, indem es die Frühlingssession abbrach.» Es sei zudem viel zu spät gewesen, erst im Mai eine ausserordentliche Session abzuhalten. «Wir hätten bereits Anfang April wieder beschlussfähig sein sollen. Ein Parlament darf in einer Notsituation nicht einfach abtauchen», hebt Munz heraus und erklärt, in welcher Weise sich das Parlament während der ausserordentlichen Lage hätte organisieren können: «Wir hätten regelmässig alle zwei Wochen für einen oder zwei Tage zusammenkommen können, um die Beschlüsse des Bundesrates abzusegnen oder gegebenenfalls zu korrigieren. Die Kommissionen hätten die Geschäfte in Videokonferenzen vorbereiten können, so wie sie das auch für die Sondersession vom Mai taten.»
«Fachkommissionen einbinden»
«Die Regelung des Notrechts ist grundsätzlich in Ordnung, wie sie ist. Und es war richtig, in der Coronakrise davon Gebrauch zu machen», hält SVP-Nationalrat Thomas Hurter fest und führt aus: «Der Bundesrat hat seine Sache meiner Meinung nach gut gemacht.» Eine Nuance führt Hurter aber ein: «Beim Herunterfahren der Wirtschaft hat die Regierung zwar gut und schnell gehandelt. Für das Hochfahren braucht es nun mehr Aufwand, es ist schwieriger. Mir scheint es, als hätte die Exekutive vergessen, dass auch die Zeit nach dem Lockdown sauber geplant werden muss.» Diese Planungslücke führt Hurter unter anderem auf die Uneinigkeit innerhalb des Regierungskollegiums zurück. Er hätte sich insofern eine bessere Koordination der Lockung gewünscht. «Es gibt zahlreiche Bausteine, die aufeinander abgestimmt sein wollen – die einzelnen Branchen oder die riesige Unterfinanzierung der Arbeitslosenversicherung beispielsweise.» Das Nationalratsmitglied erklärt, wie die politischen Prozesse in allfälligen künftigen Krisen gestaltet werden könnten: «Eine Möglichkeit wäre, in Zukunft das Parlament über die Fachkommissionen früher oder direkt einzubinden und die Entscheidungen dadurch von Anfang an zu begleiten.» Denn die Kommissionen vereinten vieles auf sich, was für den Einsatz in Krisenzeiten relevant sei. «Sie sind rasch handlungsfähig, verfügen über Know-how, sind aber dennoch parteipolitisch zusammengesetzt und demokratisch legitimiert.» Hingegen, sagt Hurter, sei die ausserordentliche Session mit Ausnahme weniger Beschlüsse nicht derart wichtig gewesen. «Wir konnten nur durchwinken, was der Bundesrat schon beschlossen hatte. Ich habe den Eindruck, dass sich gewisse Parlamentarier sorgten, sie würden in Vergessenheit geraten.»
«Den Grundsatzbeschluss fällen»
Für SVP-Ständerat Hannes Germann ist klar: «Es war ein massiver Fehler, die Frühlingssession abzubrechen.» Einerseits sei davon ein falsches Signal ausgegangen – andere Leute hätten wie gewohnt weiterarbeiten müssen, während sich das Parlament habe zurückziehen können. «Andererseits haben National- und Ständerat die Chance verpasst, die Grundrechte der Menschen besser zu schützen und die Lockerung der Massnahmen voranzutreiben.» Für ein andermal, falls wieder eine Krisenlage eintreten sollte, spricht sich der Schaffhauser für mehr parlamentarische Mitwirkung aus: «Es liegt auf der Hand, dass der Bundesrat in einer Notlage rasch handeln muss. Das Parlament sollte aber den Grundsatzbeschluss fällen, ob eine ausserordentliche Lage ausgerufen wird, wie dies in anderen Demokratien gemacht wird. Es sollte dann im Idealfall die Beschlüsse des Bundesrates enger begleiten, als das in den letzten Wochen geschehen ist. Dazu würde auch der Einbezug der Kommissionen respektive deren Präsidenten gehören.»
Die Landesregierung sei während der Coronakrise aus epidemiologischer Sicht zwar adäquat vorgegangen. «Sie hat den Gesundheitsschutz an die oberste Stelle gesetzt, was verständlich war.» Dafür habe die Wirtschaft zu wenig Beachtung erhalten. «Diese Güterabwägung hat die Regierung nicht besonders glücklich vorgenommen.» Im Rückblick betrachtet, findet Germann, hätte es genügt, die Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten und unter Umständen eine Maskenpflicht zu verordnen. «So wäre es möglich gewesen, den Bürgerinnen und Bürgern mehr Verantwortung und Freiheit zu lassen.»