[Schaffhauser Nachrichten] Eine notwendige Reform – oder eine, welche nur die Frauen bezahlen?

Ein zusätzliches Erwerbsjahr für Frauen und eine höhere Mehrwertsteuer – so möchten der Bundesrat und eine Parlamentsmehrheit der AHV für die nächsten Jahre Luft verschaffen. Das sei eine Abbauvorlage, welche nur von den Frauen geschultert würde, sagt Nationalrätin Martina Munz (SP). Ständerat Hannes Germann möchte die Geschlechter nicht gegeneinander ausspielen. Er warnt vor einem Milliardendefizit der AHV ab 2030.

Im Gespräch mit: Martina Munz und Hannes Germann

Reto Zanettin

Martina Munz sagt, die aktuelle AHV-Reform gehe auf Kosten der Frauen. Sie sei nicht akzeptabel.

Im Sommer 2019 gingen Martina Munz und schweizweit eine halbe Million andere Frauen auf die Strasse. Sie forderten mehr Respekt, Lohn und Rente. ­

Etwas mehr als drei Jahre später sitzt die SP-Nationalrätin im Zunftsaal «zun Kaufleuten», der sich an der Schaffhauser Vordergasse befindet. Sie verteidigt ihre Position gegen die AHV-Reform, die auf dem Buckel der Frauen durchgeführt werde. Ihr Gegenüber, Ständerat Hannes Germann (SVP), wünscht sich ein Ja zur Vorlage, über die wir am 25. September abstimmen. Er denkt, den Frauen werde nichts weggenommen, und er appelliert an die Solidarität mit den Jungen und künftigen Generationen.

Welcher war Ihr erster Gedanke nach der Schlussabstimmung über die AHV-Reform vom Dezember 2021?

Martina Munz: Das war ein Schlag ins Gesicht der Frauen. Vor zweieinhalb Jahren hatten wir am Frauenstreik für bessere Löhne und Anerkennung in der Gesellschaft demon­striert. Genau in der Altersvorsorge hat das Parlament nun eine Abbauvorlage beschlossen, die allein die Frauen tragen müssen. Das geht absolut nicht.

Hannes Germann: Dass wir die überfällige Reform endlich unter Dach und Fach gebracht haben, löste bei mir Erleichterung aus. Wir erreichen damit das Gegenteil dessen, was Martina Munz sagt, nämlich die völlige Gleichstellung von Mann und Frau in der ersten Säule, basierend auf dem Referenzalter 65. Ein störendes Manko, das Frauen in der AHV früher hatten, ist behoben. Geleistete Jahre in der Kinderbetreuung werden bereits heute an die AHV angerechnet.

Warum sollten Frauen dieser Reform ­zustimmen?

Wenn nichts unternommen wird, werde die AHV schon bald ein hohes Defizit aufweisen, argumentiert Hannes Germann.

Germann: Die AHV als solidarisches Generationenprojekt zu sichern, ist ein zentrales Anliegen – unabhängig vom Geschlecht. Für die Gleichstellung respektive die Angleichung des Referenzalters auf 65 Jahre werden die Frauen der Übergangsgene­ration grosszügig entschädigt. Die wachsende Rentnergeneration wiederum wird über die Mehrwertsteuererhöhung solidarisch an der AHV-Finanzierung mitbeteiligt.

Munz: Mich macht es wütend, wenn man mit der Gleichstellung argumentiert. Es gibt Lohnungleichheiten, und zudem leisten die Frauenunbezahlte Care-Arbeit in hohem Umfang. Beides verringert die Altersrente, die mit der aktuellen Reform zusätzlich gekürzt werden soll …

Germann: … Niemandem wird die Rente gekürzt.

Munz: … Ein Jahr länger arbeiten bedeutet ein Jahr weniger Rentenbezug. Es ist so, als würde man die Laufzeit eines Generalabonnements von zwölf auf elf Monate reduzieren. Das nenne ich einen Leistungsabbau – und genauso verhält es sich mit den Renten. Die AHV-Stabilisierung findet auf dem Buckel der Frauen statt.

Warum ist es keine Kürzung, Herr ­Germann?

Germann: Wir beschliessen Gesetze, die für alle gleichermassen gelten sollen und die auf keinen Fall diskriminierend sind – ­weder für Frauen noch für Männer. Beim AHV-Referenzalter gleichen wir eine bestehende Ungleichheit wieder aus. Bis 1964 galt für Mann und Frau das AHV-Rentenalter 65 – bis die damaligen Männer auf die Idee kamen, die Frauen hätten ja die Kinder zu betreuen und dürften deshalb drei Jahre früher in Pension gehen. Dieses Familienmodell entspricht erstens bei weitem nicht mehr der heutigen Realität, und zweitens wird ja die Betreuungsarbeit inzwischen vollumfänglich an die AHV angerechnet. Wer künftig freiwillig über 65 hinaus arbeiten möchte, kann damit Beitragslücken schliessen und seine AHV aufbessern. Das kommt Männern, aber auch besonders vielen Frauen entgegen.

Munz: Länger arbeiten ist eine Sicht von privilegierten Leuten, die einen Job haben, der sie nicht ausbrennt. Denken wir an Frauen im Tieflohnbereich, die anstrengende Arbeit verrichten. Denken wir an Frauen, die in der Pflege tätig sind und über ihre Grenzen belastet werden. Sie können sich auch keine Frühpensionierung leisten, weil sie im Alter auf jeden Franken angewiesen sind und oft weniger verdienen als Männer. Die AHV hat die Pflicht, die Existenzgrundlage zu sichern. Doch das tut sie bei Weitem nicht. Jede neunte Frau bezieht bei der Pensionierung bereits Ergänzungsleistungen. Das ist entwürdigend, wenn man ein Leben lang gearbeitet hat. Nun sollen sie auch noch die AHV retten. Dagegen wehre ich mich.

Germann: Bei der Lohngleichheit haben wir noch einen langen Weg vor uns. Das hat aber nichts mit der AHV zu tun. Frauen tragen heute 34 Prozent an die AHV-Finanzierung bei und beziehen 55 Prozent der ausbezahlten Renten. Diese Zahlen zeigen, dass die Geschlechtersolidarität auch bei gleichem Referenzalter 65 noch voll spielt. Das sollte die politische Linke akzeptieren statt mit irreführenden Vergleichen zu argumentieren.

Munz: Nichts, was ich gesagt habe, ist falsch. In der Gesamtaltersvorsorge haben Frauen fast 40 Prozent weniger Rente als Männer. Ein weiterer Rentenabbau verschlimmert diese Lage. 1,4 Milliarden Franken tragen einseitig die Frauen zu Stabilisierung der AHV bei – nur sie bezahlen, wenn die Vorlage angenommen wird.

Lassen Sie uns das klären: Die grosse ­Differenz in den Rentenleistungen, die Sie angesprochen haben, Frau Munz, kommt vor allem in der zweiten Säule zustande, nicht in der ersten.

Munz: Das stimmt. Aber dasselbe Bundesparlament, das die AHV-Reform beschlossen hat, reformiert gerade die berufliche Vorsorge (BVG). Das bedeutet nichts Gutes für die Frauen. Bevor wir Zugeständnisse im BVG erhalten, dürfen wir die AHV nicht schwächen. Auch deshalb lehnen wir die AHV-Reform ab. Sonst werden wir in beiden Vorlagen benachteiligt.

Germann: Martina Munz möchte den Fünfer und ’s Weggli und keine Gleichstellung. Wir als Politiker haben eine Gesamtverantwortung für unser Land, für unsere Kinder, die unsere Zukunft sind.

Warum hat das Parlament nicht eine grosszügigere Kompensation der Übergangsjahrgänge beschlossen?

Germann: Es gab Anträge, die 20 Frauenjahrgängen eine Ausgleichszahlung zusprechen wollten. Doch damit wären die Mehreinnahmen, die durch das höhere Rentenalter möglich werden, mehr als überkompensiert. Ein Nullsummenspiel, nicht mehrheitsfähig. Nun haben wir einen ausgewogenen Kompromiss. Neun Jahrgänge werden entschädigt, und die AHV bekommt Mittel, die sie ab 2032 dringend braucht.

Munz: Die letzte Reform, die gelang und bei der das Frauenrentenalter um zwei Jahre erhöht wurde, hat eine echte Verbesserung gebracht. Frauen bekamen Betreuungsgutschriften, womit sie zum ersten Mal eine Anerkennung für ihre unbezahlte Arbeit erhielten. Zudem wurden die Frauen damals zu 80 Prozent in den Übergangsjahrgängen entschädigt, nun sind es bloss 30 Prozent. Altersarmut ist nach wie vor weiblich, und sie verschärft sich mit der ­aktuellen Rentenreform. Hinzu kommt, der Arbeitsmarkt wartet nicht auf über 60-Jährige. Sie sind am häufigsten langzeitarbeitslos.

Germann: Mir missfällt dieses Ausspielen von Mann und Frau. Allen, die schwere Arbeiten verrichten oder nicht mehr können, kommen wir mit einer Übergangsrente ab 58 entgegen. Ziel muss sein, dass alle Menschen ihre Rentenansprüche möglichst flexibel beziehen können und keine Nachteile erleiden, egal welchen Lebensentwurf sie für sich gewählt haben. Doch zuerst einmal müssen wir die notwendigen und nahe liegenden Reformschritte unternehmen.

Munz: Die Bürgerlichen betreiben Angstmacherei, wenn sie behaupten, die AHV sei in Schieflage und die Jungen bekämen keine Renten. Das stimmt nicht. Die AHV schreibt jedes Jahr Überschüsse, letztes Jahr waren es 2,6 Milliarden Franken, und der AHV-Ausgleichfonds steht auf einem Allzeithoch von 50 Milliarden Franken. Der ersten Säule geht es sehr gut, weil sich die Gesamtlohnsumme in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat. Mehr Frauen als jemals zuvor sind in den Erwerbsprozess eingetreten und arbeiten mit einem höheren Pensum. Zudem hat sich die Produktivität erhöht, davon profitiert die AHV. Es besteht kein akuter Handlungsbedarf.

Germann: Die Leute werden, was sehr erfreulich ist, immer älter, und die Babyboomer gehen in Pension. Das Verhältnis von Beitragszahlern und Beitragsbezügern verlagert sich zusehends. Darum wird es nach 2030 zu einem Knick kommen und die AHV in ein Milliardendefizit fallen. Das ist ein ganz düsteres Zukunftsbild. Wenn wir wegschauen und die Probleme den kommenden Generationen überlassen, machen wir unsere Aufgabe als Politiker nicht. Ich will nicht, dass wir die Jungen, welche die Renten der älteren Generation bezahlen, immer noch stärker belasten. So viel Solidarität sind wir unseren Nachkommen schuldig.

Was bringt ein höheres Rentenalter, wenn über 60-jährige Menschen entlassen werden und im Arbeitsmarkt nur noch schwer Fuss fassen können?

Germann: Im Moment haben wir einen akuten Fachkräftemangel. Eine Lehrerin oder ein Lehrer kann – sofern gewillt – ohne Schwierigkeiten bis 70 im Beruf bleiben. Die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ist da. Sicher gibt es andere, schwierigere Situationen. Hier müssen wir mit den Arbeitgebern über die Bücher. Doch es geht niemand unter. Wir haben Überbrückungsleistungen, Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen.

Munz: Das ist nicht würdig, am Ende eines Arbeitslebens. Wer sich frühpensionieren lässt, erleidet einen Rentenverlust. Das können sich nur Leute leisten, die eine gut gefüllte Pensionskasse haben. Frauen gehören kaum dazu, weil sie oft Teilzeit arbeiten und in der zweiten Säule nur wenig ansparen können. Deshalb müssen wir ein deutliches Nein zu dieser Reform setzen. Sie gewährleistet nicht die existenzielle ­Sicherung der Frauen im Alter.

Germann: Leider verhindert Martina Munz damit auch die Besserstellung aller, die in den Übergangsgenerationen schlecht verdienen. Das Kompensationsmodell ist abgestuft. Wer wenig verdient, erhält mehr als andere, die ein hohes Einkommen haben.

Inwiefern hängen die tiefen Renten von Frauen auch mit einem veralteten Rollenbild zusammen, und müsste nicht auch an diesem Rollenbild gearbeitet werden?

Munz: Wir brauchen bezahlbare Tagesstrukturen. Es kann nicht sein, dass Steuern und Ausgaben für teure Tagesstrukturen den Lohn wegfressen. Das ist ein Fehlanreiz. Frauen reduzieren ihre Pensen und können darum zu wenig in ihre Pensionskasse einzahlen. Die Gleichstellung muss da ansetzen. Mit dem aktuellen Parlament bin ich nicht sehr zuversichtlich, dass wir einen Schritt weiterkommen.

Germann: Es gibt Lücken, die in der Vergangenheit entstanden sind und nur schwierig zu kompensieren sind. Das trifft aber primär die zweiten Säule. Doch jetzt geht es nicht um die Pensionskasse, sondern um die AHV. Dort rechnen wir nicht nur die Kinderbetreuung an, sondern bieten neu die Möglichkeit, bestehende Beitragslücken zu kompensieren.

Die Reform will auch eine Mehrwertsteuererhöhung. Wie erklären Sie das den Bürgerinnen und Bürger, die schon heute mit der Teuerung kämpfen?

Munz: Ich bin gegen diese Mehrwertsteuererhöhung, weil sie Menschen mit kleinen Einkommen proportional am stärksten trifft. Die Erhöhung kommt zu einer Unzeit, denn mit Teuerung, hohen Energiepreisen und Prämienexplosion sind die Leute genug belastet.

Germann: Die Mehrwertsteuer fördert die Solidarität der Rentner mit den jüngeren Generationen. Es gibt viele, denen es gut geht und die über ihren Konsum zur AHV-Finanzierung beitragen können.

Aber für Menschen, die mit dem Haushaltsbudget am Anschlag sind, ist die Mehrwertsteuererhöhung doch durchaus ein Problem.

Germann: Bis vor wenigen Jahren lag der Mehrwertsteuersatz bei 8 Prozent, dann wurde er gesenkt. Nun erhöhen wir die Sätze wieder um 0,4 respektive 0,1 Prozentpunkte. Im europäischen Vergleich ist das immer noch einmalig tief. Wenn wir, wie es die SP möchte, der EU beitreten würden, hätten wir sofort eine doppelt so hohe Mehrwertsteuer.

Wenn die Reform abgelehnt wird, wie geht es dann weiter?

Munz: Die AHV ist gut finanziert. Wir haben keinen dringenden Bedarf, diese Reform durchzubringen. Bei einem Nein kommt als Nächstes die BVG-Reform. Das ist der Lackmustest, ob die Frauen bessergestellt werden mit einem tieferen Koordinationsabzug. Das wäre die Voraussetzung für eine neu gestaltete AHV-Reform ohne Leistungsabbau.

Germann: Ich hätte es lieber umgekehrt. Jetzt die AHV sichern und die gröbsten Mängel in der zweiten Säule im Rahmen der angelaufenen BVG-Reform eliminieren. Das führt langfristig zu markanten Rentenverbesserungen von Teilzeitarbeitenden und Menschen mit tiefen Löhnen. Mit dem Ziel, dass sich AHV und BVG in idealer Weise ergänzen.

Martina Munz

Die Sozialdemokratin aus Hallau politisiert seit 2013 im Nationalrat. Dort ist sie Mitglied der Umweltkommission und der Finanzkommission. Zwischen 2000 und 2018 war sie Mitglied des Schaffhauser Kantonsrat, und von 2009 bis 2015 präsidierte sie die SP des Kantons Schaffhausen. Munz kam 1955 zur Welt und ist diplomierte ­Agronomin ETH.

Hannes Germann

Der SVP-Politiker vertritt den Kanton Schaffhausen seit 2002 im Ständerat. Er ist Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit sowie der Wirtschaftskommission. ­Daneben hält er mehrere Verwaltungsrats- und Verbandsmandate. ­Zuvor arbeitete er als Wirtschaftsredaktor und Lehrer. Germann ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Opfertshofen.