[Schaffhauser Nachrichten] Pflegeinitiative: Tränen der Erleichterung

Von angespannt bis erleichtert: So erlebt das Aushängeschild der Pflegeinitiative Yvonne Ribi den Abstimmungssonntag.

Chiara Stäheli

Siegerin Yvonne Ribi am Abstimmungssonntag in Bern. BILD KEY

BERN. Yvonne Ribi wischt sich über die wässrigen Augen, umarmt ihre engsten Begleiterinnen und strahlt über das ganze Gesicht. «Es ist der Hammer, es ist einfach unglaublich.» Seit acht Jahren fiebert die Geschäftsführerin des Berufsverbands der Pflegefachpersonen (SBK) auf diesen Tag hin. Nun ist es so weit. Nach den ersten Trend-Rechnungen bricht Jubel aus auf der Grossen Schanze, wo sich das Ja-Komitee am Sonntag trifft. Zwar ist der Applaus noch zurückhaltend – die definitiven Ergebnisse sind noch nicht bekannt –, doch bereits jetzt fällt ein Teil der Anspannung von Ribi. Spürbar war diese bis zuletzt. «Ich habe mich sowohl auf eine Annahme als auch auf eine Ablehnung vorbereitet», sagt sie und kramt zwei Karten hervor, die eine rot beschriftet mit «Ablehnung», die andere grün mit «Annahme».

Mit den ersten erfreulichen Nachrichten und mit einem Milchshake ausgestattet fährt Yvonne Ribi mit dem Taxi sodann ins Berner Alterszentrum Viktoria. Dort steht sie dem Schweizer Fernsehen Rede und Antwort – und erklärt auch gleich, wie die Initiative umgesetzt werden soll: «Das Parlament und der Bundesrat stehen nun in der Pflicht. Sie müssen parallel an zwei Dingen arbeiten.» Einerseits sollen die Inhalte des indirekten Gegenvorschlags sobald als möglich im Parlament in Form eines Gesetzes verabschiedet werden. «Zeitgleich fordern wir den Bundesrat auf, eine Arbeitsgruppe zu bilden, welche sich um die Umsetzung unserer Kernforderungen kümmert», so die 45-Jährige. Heisst: Auf Verordnungsebene sollen sowohl die Anzahl Patienten pro Pflegefachperson als auch die Abrechnungsleistungen festgelegt werden. So der Plan des Initiativkomitees.

Historischer Tag für die Schweiz

Kaum hat Ribi den letzten Satz beendet, gehts mit dem Taxi zurück zur Grossen Schanze. Politologe Lukas ­Gol-der spricht derweil im Schweizer Fernsehen von einem «historischen Sieg». Es ist die erste gewerkschaftliche Volksinitiative, die je von der Bevölkerung angenommen wurde. Golder sagt aber auch, dass die Initianten von der Pandemie profitiert hätten. Es sei dies die «eigentliche Corona-Abstimmung».

Nach der zweiten Hochrechnung gratulieren sich Parlamentarier, Pflegefachfrauen und Verbandsmitglieder gegenseitig zum Resultat: Mit 61 Prozent wurde die Pflegeinitiative vom Stimmvolk klar angenommen. Als schliesslich bekannt wird, dass auch eine deutliche Mehrheit der Stände die Initiative unterstützt, kennen die Feiernden keine Grenzen mehr. Der Champagner fliesst, die Gläser werden in die Luft gehoben. Es wird angestossen, gesungen und getanzt. Auch Yvonne Ribi streckt die Hände in die Höhe, hüpft auf und ab und hat zum zweiten Mal an diesem Tag Tränen in den Augen. «Das erste Mal überhaupt konnte das Volk über die Pflege abstimmen, das ist unglaublich. Ich kann selbst noch nicht ganz glauben, was dieser Entscheid bewirken kann», so Ribi, deren Stimme sich vor Freude überschlägt.

Dass die Pflegeinitiative obsiegen würde, ist keine Selbstverständlichkeit: Die Kampagne verlief zwar ziemlich reibungslos, doch auch Ribi und ihre Genossinnen hatten mit Rückschlägen zu kämpfen. In der heissesten Phase des Abstimmungskampfes erkrankte Ribi an Corona  – obwohl sie doppelt geimpft ist. Dann hätte sie fast den Auftritt in der «Arena» absagen müssen. Und schliesslich spielten ihr die Gewerkschaften ein Schnippchen: An einer Demo am Unispital Zürich wurden Forderungen nach Mindestlohn, 36-Stunden-Woche und Nachtarbeitszuschlägen bekannt. Für die Initianten, die das breite Spektrum der Bevölkerung bedienen und nicht nur linke Wähler abholen wollten, hätte dies ein Wendepunkt in der Kampagne sein können. Doch die Gegner liessen die Chance ziehen und verzichteten darauf, die Forderungen gegen die Befürworter zu verwenden.

Nicht zuletzt deshalb betont Ribi an diesem Abstimmungssonntag mehrmals, dass der Sieg nur dank all der Helferinnen und Helfer zustande gekommen sei: «Ich bin zwar das Gesicht nach aussen, aber ohne all diese Menschen hier wäre dieser Erfolg nie möglich gewesen.» Nichtsdestotrotz bleibt unbestritten, dass Ribi ihren Teil dazu beitrug. Sie konnte dem Parlament sehr viel abringen. Der Gegenvorschlag ist gar so gut, dass ihn nun selbst die Initiantinnen umsetzen wollen.

Familie kommt, Anspannung geht

Einen der emotionalsten Momente an diesem Sonntag erlebt Ribi am späten Nachmittag. Ihre Partnerin und ihre engsten Familienmitglieder überraschen die überwältigte Abstimmungsgewinnerin mit ihrem Besuch. Kaum erblickt sie ihre Liebsten, fällt die ganze Anspannung weg.

Sie hält die Hände vors Gesicht, und die Augen der diplomierten Pflegefachfrau tränen zum dritten Mal an diesem Tag. Es sind Tränen der Freude, der Erleichterung und vermutlich auch Tränen der Erschöpfung, die nach Ribis jahrelangem Kampf für die Pflege nun endlich fliessen dürfen.

 

Von Anfang an auf verlorenem Posten

Die Befürworter des Gegenvorschlages blieben praktisch unsichtbar. Sie hatten zwar ihre Argumente, ­ konnten diese aber dem Volk nicht verkaufen.

Rico Steinemann

BERN/SCHAFFHAUSEN. Sie waren schon vor der Abstimmung die Sieger der Herzen: die vielen tausend Pflegekräfte, die sich – nicht erst seit Beginn der Pandemie – unermüdlich um Patientinnen und Patienten kümmern. Gegen die Sympathiewelle, die sie genossen, und die durch die Covid-Krise nochmals verstärkt wurde, war aus Sicht der Gegner der Initiative kein Kraut gewachsen.

So gesehen erstaunte es denn auch niemanden aus dem Lager der Befürworter des Gegenvorschlags, dass die Initiative einen klaren Sieg einfuhr. ­Dafür gibt es mehrere Gründe. So sagt beispielsweise die Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel (Die Mitte), die den ­indirekten Gegenvorschlag im Parlament lancierte: «Die Initiative kam sehr sympathisch daher. Ich bin an verschiedenen Orten aufgetreten. Und wurde häufig nach dem Inhalt des Gegenvorschlages gefragt. Es war für die Menschen schwer, zu verstehen, was genau dahinter steckt.»

Humbel betont, dass sie einige der Forderungen der Initiative teile. «Aber das Gesundheitswesen ist in unserem föde­ralistischen System Sache der Kantone.» Es sei bei dieser Abstimmung auch um eine staatspolitische Frage ­gegangen. Die Themen Ausbildung und selbständiges Abrechnen habe das Parlament im Gegenvorschlag aufgenommen. «Alles, was tiefer geht, wird nie ohne die Kantone zu regeln sein», ­erklärt die Nationalrätin. Das hätte man aber auch in einer teuren ­Kampagne nur schwierig transportieren können. Die Nationalrätin vermutet, dass vielen Pflegenden diese staatspolitische Ebene nicht bewusst war, und wirft den Funktionären des Pflegeverbandes vor, dass sie den Mitgliedern diesbezüglich keinen reinen Wein eingeschenkt haben. «Die Pflegenden werden enttäuscht sein. Denn praktisch werden sie im nächs- ten Jahr und auch in zwei Jahren nichts haben.» Der Bundesrat könne auch nicht einfach Fachpersonen aus dem Hut zaubern.

Die Zürcher FDP-Nationalrätin Regine Sauter sah ein Problem darin, dass es keine wahrnehmbare Kampagne für den Gegenvorschlag ­gegeben habe. Sie führt das auch auf fehlende Mittel zurück. ­Sauter moniert, dass es schwierig ge­wesen sei, diesen Gegenvorschlag zu ­erklären. «Ein Nein zur Initiative ist ein Ja zum Gegenvorschlag. Das habe ich stets versucht klar zu machen.» Auf dem Stimmzettel stehe aber nur Ja oder Nein zur Pflegeinitiative. Weiter sagt die in Flurlingen aufgewachsene Gesundheitspolitikerin: «Ich bedauere diesen Entscheid. Mit dem ­indirekten Gegen­vorschlag hätten wir morgen starten ­können.»

Kristian Schneider ist selbst Pflege­fachmann und Vorstandsmitglied des Spitalverbandes H+. Er nimmt die Niederlage sportlich und betont, dass er froh ist über das deutliche Signal zur Stär-kung der Pflege. Schneider erwartet nun, dass Bundesrat und Parlament ihre Verantwortung wahrnehmen. Zudem kritisiert der Pflegefachmann die Initianten und moniert, dass sie und die Gewerkschaften eine Berufsgruppe nutzten, um ihre politischen Absichten durchzusetzen. «Und das tun sie im Wissen, dass es in der Pflege schwierig wird. Denn uns fehlen die Pflegenden auf jeden Fall. Wir können nicht nochmals einen mehrjäh­rigen politischen Prozess in Bern ge- brauchen.» Genau dazu wird es nun aber kommen.

 

Reaktionen

Patrick Portmann Komitee «Ja zur Pflegeinitiative»

Bei SP-Kantonsrat und Pflegefachmann Patrick Portmann herrschte gestern Hochstimmung. «Es ist ein historischer Erfolg, den wir heute erlangt haben», sagte er nach dem Vorliegen des kantonalen Resultats. «Es freut mich besonders, dass der Ja-Anteil des Kantons Schaffhausen über dem nationalen Ja-Anteil liegt.» Nun seien die Stände- und Nationalräte am Zug, diesen Volkswillen umzusetzen. «Es mag sein, dass es nun länger geht als mit dem Gegenvorschlag, aber die ­Initiative ist allumfassender als der Gegenvorschlag», so Portmann. Die Bevölkerung wolle, dass die Arbeitsbedingungen der Pflege verbessert würden, ­beispielsweise die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, damit die Leute länger in der Pflege bleiben würden. «Das muss nun auch auf der bürgerlichen Seite gesehen werden.» Portmann räumt ein, dass die Pandemie der Initiative geholfen habe. Der SP-Politiker betont aber auch, dass die Initiative zuvor aufgegleist worden war.

Hannes Germann Ständerat (SVP)

Der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann (SVP) nahm die Niederlage relativ gelassen. «Das Parlament muss jetzt über die Bücher und die Verfassungsbestimmungen in Gesetz giessen», sagte er. Dass es nun zu Verzögerungen komme, bezeichnete er als bedauerlich. «Wir müssen das so akzeptieren. Die Initianten wollten alles.» Mit dem indirekten Gegenvorschlag hätte man direkt loslegen können, eine Milliarde sei für die Ausbildung der Pflege bereit gelegen. Germann sieht grosse Herausforderungen bei der Umsetzung von Teilen der ­Initiative: «Sie will Arbeitsbedingungen festlegen. Es ist aber nicht ­Sache des Bundes, ­vorzuschreiben wie Kantone und Gemeinden ihre Angestellten zu entlöhnen haben.» Er versprach, das Bestmögliche aus dem Auftrag der ­Bevölkerung zu machen. Das Parlament werde wohl umstrittene Punkte der Initiative vorziehen und die komplizierteren später angehen.