70 Prozent des hiesigen Zuckerbedarfs produziert die Schweiz selbst, unter anderem in Schaffhausen. Doch dies gelingt nur mit Subventionen und Mindestgrenzschutz. Wird das den Schweizer Zucker auch weiter in die Zukunft retten?
Katrin Schregenberger | 23. November 2023
Nun regnet es doch, hier in Herblingen. Und dann noch quer. Dabei hatte Landwirt Koni Wehrli extra auf diesen Tag gewartet, auf einen Tag mit wenig Regenwahrscheinlichkeit, um seine Zuckerrüben auf diesen eineinhalb Hektaren zu ernten. Nun muss er sie heute ernten, denn nächste Woche sollen sie in die Zuckerfabrik nach Frauenfeld. Reihe um Reihe fährt er mit seinem Traktor und der Erntemaschine ab, die Erde klebt mit jedem Regentropfen mehr, das Gefährt kämpft gegen den Widerstand des Bodens an. Am Rand des Rübenfelds türmen sich bereits die Zuckerrüben. Wehrli, ein Mann von 49 Jahren mit Latzhose und Käppli, steigt von dem Traktor, lässt sich von den Regentropfen auf seinen Brillengläsern nicht stören, nimmt eine grosse Rübe in die Hand, an der noch Erde klebt, und sagt: «Wenn ich den Haufen sehe, schätze ich, der Ertrag wird nicht schlecht. Ich hoffe, dass es von diesem Feld rein 75 Tonnen pro Hektar sein werden.»
Insgesamt bebaut er sechs Hektaren mit Zuckerrüben, letztes Jahr gab das 452 Tonnen. Doch der Zuckergehalt, der war so schlecht wie noch nie. Und dabei nimmt Schaffhausen in Sachen Zuckergehalt jeweils schweizweit die Spitzenplätze ein. Selbst mit dem Rekordtief von 16,1 Prozent Zuckergehalt gehörten die Schaffhauser Rüben letztes Jahr zu den süssesten der Schweiz. «Wo Wein wächst, wächst auch Zucker», resümiert Wehrli. Doch: Der Zuckergehalt der Schweizer Rüben sinkt seit Jahren. 2015 betrug er durchschnittlich 18,9 Prozent, im Jahr 2022 waren es noch 15,1 Prozent. Das ist nur ein Indiz dafür, dass der Schweizer Zuckerrübenanbau vor existenziellen Problemen steht.
Bote des Klimawandels
«Von den wüsten Sachen der Westschweiz bleiben wir hier in Schaffhausen zum Glück noch verschont», sagt der Landwirt, der auch Delegierter der Ostschweiz im Schweizerischen Verband der Zuckerrübenpflanzer ist. Wir sitzen mittlerweile in der warmen Stube, Wehrlis Frau hat Kaffee gekocht und redet mit. Seit 2017 geht unter den Rübenbauern in der Schweiz die Angst um vor dem «Syndrome Basses Richesses», kurz SBR. Die Krankheit richtet bedeutende Schäden in den Zuckerrübenkulturen an – und senkt deren Zuckergehalt. «Das sind dann die 14,8er», sagt Wehrli, eine Prozentangabe, die typisch ist für Rüben aus der Westschweiz.
Die Bakterien, die die Krankheit auslösen, werden durch die Schilf-Glasflügelzikade auf die Rüben übertragen, die von Trockenheit profitiert: Sie ist ein Bote des Klimawandels. «Die Zikade ist mit chemischen Pflanzenschutzmitteln nicht bekämpfbar, man kann nicht spritzen, wenn sie da ist, ist sie da.» Das sagt Madlaina Peter. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Schweizerischen Fachstelle für Zuckerrübenbau. «Die Zikade wandert jedes Jahr weiter ostwärts, im Moment ist sie bis zum Raum Solothurn anzutreffen.» Und da es sich um einen neuen Schädling handelt, gibt es noch keine etablierten Zuchtprogramme, die gezielt Rüben hervorbringen würden, die gegen die Krankheit resistent sind. Wenn ein Feld einmal befallen ist, gibt es also kein Mittel dagegen. Ein Ausweg sind Sorten, die auf SBR weniger anfällig sind – die Fachstelle testet und empfiehlt diese Sorten.
Im Video erzählt Landwirt Koni Wehrli von der diesjährigen Ernte. Und wir werfen einen Blick in die Zuckerfabrik Frauenfeld.
SBR ist mit ein Grund, weshalb immer mehr Bauern die Rübe aufgeben. Hinzu kommen andere Schädlinge und Krankheiten wie die Viröse Vergilbung, die den Bauern seit dem Verbot des Pflanzenschutzmittels Gaucho ebenfalls zu schaffen macht. Und zu all dem kommen noch tiefe Zuckerpreise seit der Marktliberalisierung der EU im Jahr 2017. Die Zahl der Zuckerrübenpflanzer sinkt seit Jahren.
In der Schweiz werden jährlich rund 230’000 Tonnen Zucker produziert. Das entspricht einem Selbstversorgungsgrad von rund 70 Prozent. Der Höchststand der Zuckerrübenfläche wurde 2014 mit rund 21’000 Hektaren erreicht. Derzeit sind es noch 16’500 Hektaren, in knapp zehn Jahren ist die Fläche also um einen Fünftel geschrumpft. Das bringt auch den einzigen Zuckerproduzenten in der Schweiz, die Schweizer Zucker AG, in Bedrängnis. Im letzten Geschäftsbericht resultierte mit 400’000 Franken Gewinn praktisch eine schwarze Null. Um ihre zwei Fabriken in Aarberg und Frauenfeld langfristig wirtschaftlich betreiben zu können, würden etwa 21’000 Hektaren benötigt. Im Moment wird diese fehlende Menge aus Deutschland importiert.
Branche braucht staatliche Hilfe
Frauenfeld, auch an diesem Tag im November regnet es, und die Luft riecht süss-holzig wie jedes Jahr zwischen September und Dezember. In rund 100 Tagen und Nächten, «Rübenkampagne» genannt, werden hier alle Zuckerrüben der Schweiz plus einige mehr aus Deutschland in Zucker umgewandelt, 140 Personen arbeiten dann in der Fabrik. Lastwagen nach Lastwagen biegt in die Einfahrt zur Zuckerfabrik ein, auch Bauer Wehrlis Rüben gelangen so hierher. Gesamtschweizerisch werden 35 Prozent mit der Bahn und 65 Prozent auf der Strasse geliefert. Die Fabrik ist umwoben von Wasserdampf.
Drinnen ist es drückend warm, es röhrt, rauscht und rattert. Schneidmaschinen zerkleinern die gewaschenen Rüben zu Schnitzeln. Dann wird mittels heissen Wassers der Zucker extrahiert, ein Dünnsaft entsteht, daraus Dicksaft und schliesslich Zucker. Rund 85 Prozent des in der Schweiz produzierten Zuckers gelangen in die Nahrungsmittelindustrie, nur rund 15 Prozent dienen als Haushaltszucker. Bedeutende Abnehmer sind die Schokoladen- oder Getränkeindustrie mit Marken wie Coca Cola, Red Bull oder Rivella.
Um die Zuckerherstellung in der Schweiz zu retten, ist die Politik bereits aktiv geworden. Die Zuckerrübe ist mit 2100 Franken je Hektare die Pflanze mit dem höchsten Einzelkulturbeitrag. Insgesamt flossen 2021 rund 34 Millionen Franken in den Zuckerrübenanbau. Zum Vergleich: Im gleichen Jahr gingen rund 16 Millionen in den Getreideanbau – und 230 Millionen in die Milchwirtschaft. Und das bei kleinen Flächenanteilen: Selbst Kartoffeln, Futterrüben und Zuckerrüben zusammen machten 2022 nur 2,6 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus, Getreide hingegen 13,9 Prozent. Um den Schweizer Zucker attraktiver zu machen, gilt zudem ein Mindestgrenzschutz für importierten Zucker von 7 Franken pro 100 Kilogramm.
Die Bürgerinnen und Bürger unterstützen den Schweizer Zucker also doppelt: einmal über Steuergelder und einmal als Konsumentinnen und Konsumenten über die höheren Preise für Zucker und zuckerhaltige Schweizer Produkte im Laden. Im Moment sind diese Rettungsmassnahmen bis 2026 begrenzt. Zwei Standesinitiativen der Kantone Thurgau und Bern wollen den Selbstversorgungsgrad mit Schweizer Zucker nun über 2026 hinaus sichern.
Ob ein Thema heikel ist, erkennt man oft daran, dass ein Mediensprecher beim Gespräch mithört – und gegebenenfalls eingreift oder dem Befragten etwas zuflüstert. Dies ist auch beim Gespräch mit Guido Stäger, CEO der Schweizer Zucker AG, der Fall. Zur Subvention des Rübenanbaus sagt er: «Alle Ackerkulturen in der Schweiz werden unterstützt, die Rübe ist da nichts Spezielles – sie hat vielleicht ein paar Hundert Franken mehr.» Und meint damit den Einzelkulturbeitrag pro Hektare. Und zum Mindestgrenzschutz: «Von uns aus gesehen sind 7 Rappen pro Kilogramm eine tiefe Grenzabgabe.» Zumal die Grenzabgabe für die Pflichtlager verwendet werde. Die Gesellschaft müsse sich bewusst sein, dass mehr Nachhaltigkeit auch höhere Kosten verursache. «Diese Massnahmen sind für die Branche lebenswichtig.»
Die Schweizer Zucker AG ist denn auch gut vernetzt mit der Politik: Drei Verwaltungsräte der Schweizer Zucker AG sitzen auch im Nationalrat. Und vor allem ist sie eng mit der Landwirtschaft verwoben: Mit 40 Prozent ist der Verband der Rübenpflanzer der grösste Aktionär. 30 Prozent halten die Standortgemeinden und -kantone, darunter auch Schaffhausen. Die Landwirte sind also gleichzeitig Aktionäre und Zulieferer der Firma. Und auch das Saatgut, das aus dem Ausland kommt, bestellen sie bei dieser. Der Verband und die Schweizer Zucker AG unterhalten zusammen auch die Schweizerische Fachstelle für Zuckerrübenbau.
Liberale für Massnahmen
Die Initiative für die Staatsrettung des Schweizer Zuckers kommt auch von freisinnigen Politikern. Der FDP-Politiker Anders Stokholm gehört zu den Initianten der Thurgauer Initiative: «Mir geht es um das Thema Selbstversorgung: Nur mit stützenden Massnahmen kann man diesen Grad von 70 Prozent aufrechterhalten.» Auch die Lebensmittelindustrie profitiere davon, denn sonst gehe die Swissness mancher Produkte verloren. Und natürlich geht es dem Frauenfelder Stadtpräsident auch um die fast 200 Arbeitsplätze.
Die Zuckerproduktion in der Schweiz schafft zahlreiche Arbeitsplätze. Alleine in der Fabrik in Frauenfeld arbeiten rund 200 Personen.
Die beiden Standesinitiativen sind bereits von der Wirtschaftskommission des Ständerats beraten worden – und mit acht zu drei Stimmen bei zwei Enthaltungen durchgekommen. Nun liegen sie bei der Wirtschaftskommission des Nationalrats. «Selbstversorgung ist wichtig, gerade wenn man die jüngsten Krisen anschaut», sagt der Schaffhauser SVP-Ständerat Hannes Germann, der in der Wirtschaftskommission sitzt. Er gehört zu den Befürwortern der Initiativen. «Man kann die hohen Einzelkulturbeiträge rechtfertigen, weil die Industrie eben auch viel braucht, die Nachfrage ist da», ergänzt er. Der Zuckerrübenanbau sei eine Tradition in der Schweiz, die es zu erhalten gelte.
Auch FDP-Präsident Thierry Burkart stimmte den Initiativen zu, auch für ihn steht die Versorgungssicherheit von Zucker im Zentrum. Es brauche Massnahmen, um den rapiden Rückgang der Zuckerrübenproduktion zu bremsen und für die Schweizer Branche gleich lange Spiesse zu schaffen, schreibt er auf Anfrage. Die Mehrkosten für die Konsumierenden seien überschaubar, es gehe um etwa 1 Rappen je 250 Gramm Konfitüre. Den starren Mindestgrenzschutz gelte es trotzdem zu prüfen: «Aus meiner Sicht brauchen wir ein flexibles System, das dann greift, wenn die internationalen Zuckerpreise einbrechen.»
Kritik am Mindestgrenzschutz
Im Parlament gibt es wenige, die die Zuckerpolitik kritisieren. Denn sie ist Teil der Agrarpolitik der Schweiz, die politisch unantastbar scheint. «Die Ausrichtung der Agrarpolitik geht auf die ungewisse Versorgungssicherheit in der Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück. Damals spielte Zucker eine wichtige Rolle», sagt Patrick Dümmler, Forschungsleiter Offene Schweiz beim Thinktank Avenir Suisse. Das sehe man daran, dass die Schweiz Pflichtlager für Zucker hat – ein Argument, das Befürworter immer wieder für den Zuckerrübenanbau ins Feld führen. Doch gerade der statistisch gemessene Selbstversorgungsgrad der Schweiz sei Augenwischerei, sagt Dümmler. Denn dieser wird auf der Basis von Kalorien berechnet. «Das heisst, ein grosser Teil des Selbstversorgungsgrads basiert auf Zucker. In einem Krisenfall müsste man also statistisch gesehen Dutzende Esslöffel Zucker täglich essen, um auf eine genügende Anzahl Kalorien zu kommen. Unter gesundheitlichen Aspekten ist das völlig verfehlt.»
Was im Krisenfall laut Dümmler viel besser helfen würde, sei ein etabliertes Netz aus verschiedenen Bezugsländern. Denn: «Selbst im Zweiten Weltkrieg konnten wir immer noch etwa 20 Prozent der Lebensmittel importieren.» Er sieht die Agrarpolitik der Schweiz, für die der Zucker exemplarisch ist, auf eine Wand zusteuern. «Die Schweizer Politik kann Landwirtschaft à la Gotthelf spielen, aber die Kosten pro Hof werden immer höher. Man muss immer mehr subventionieren, die Zollschranken immer weiter erhöhen.» Schon heute machten Subventionen im Schnitt die Hälfte der bäuerlichen Einkommen aus. Eine nachhaltige Zukunft einer – redimensionierten – Schweizer Landwirtschaft sieht er vor allem in höherpreisigen Nischenprodukten. Diesen Weg sei auch Österreich nach dem EU-Beitritt erfolgreich gegangen.
Ebenfalls Gegensteuer geben die Lebensmittelhersteller. Urs Furrer, Geschäftsführer der Branchenverbände Chocosuisse und Biscosuisse, spricht von einem generellen «Rohstoffpreis-Handicap» in der Schweiz. Beim Zucker kämen noch intransparente Preise dazu, festgelegt vom Monopolisten Schweizer Zucker AG. Zudem verlangt die Swissness-Gesetzgebung einen Mindestanteil Schweizer Rohstoffe, damit das Produkt mit einem Schweizer Kreuz versehen werden darf. Das führe zu Standortnachteilen. Die Folge: Immer mehr Fertigprodukte werden importiert. «Bald jede zweite Schoggi kommt aus dem Ausland», sagt Furrer. Der Mindestgrenzschutz sei wettbewerbsverzerrend und gehöre abgeschafft.
Nur wenig Zuckerrüben sind bio
In eine andere Richtung zielt die Kritik von Laura Spring, Geschäftsführerin vom Verein Vision Landwirtschaft. «Wir essen in der Schweiz rund vier Mal so viel Zucker, als eigentlich gesund wäre», sagt sie. «Wenn nur der Zucker angebaut würde, den unsere Gesundheit verkraften kann, könnte die Schweiz ihren Bedarf leicht selber abdecken.» Statt den konventionellen Zuckerrübenbau künstlich so hoch zu halten, um zwei Fabriken betreiben zu können, würde eine Fabrik aus ihrer Sicht genügen – die dann dafür mehrheitlich biologisch angebaute Rüben produzieren würde. Der Anteil der Biozuckerrüben ist heute noch verschwindend klein: Er besetzte 2022 nur 1,3 Prozent der Anbaufläche.
«Biolandwirtschaft ist das eine, Biozuckerrübenanbau ist dann nochmal was ganz anderes», sagt der Schaffhauser Rübenpflanzer Wehrli. Denn jeden Frühling, wenn die Pflänzchen noch klein sind, bangt er um ihr Wachstum, denn dann sind sie anfällig auf Schädlinge und noch zu schwach, um sich gegen Unkraut durchzusetzen. Fällt Herbizid weg, so wächst der Aufwand für die Unkrautbekämpfung massiv an. «Grossflächig ist das von mir aus gesehen nicht praktikabel.»
Der Klimawandel bringt Schädlinge und Krankheiten mit sich, der politische Druck auf die Landwirte, weniger Pflanzenschutzmittel einzusetzen, wächst jedoch gleichzeitig. Explizit in den Standesinitiativen erwähnt ist deshalb auch die Forschung zu nachhaltigem Anbau. Die Hoffnung liegt unter anderem auf der Entwicklung neuer, gegen Krankheiten und Schädlinge resistenter Sorten. Und auch die Industrie hofft auf Besserung: Die Zuckerpreise sind derzeit besser als auch schon. Und die Anzahl Rübenpflanzer blieb dieses Jahr stabil.
Ein paar Tage nachdem Koni Wehrlis Rüben in Frauenfeld verarbeitet wurden, erhält er die Auswertung seiner Rüben. «Von diesem Feld sind es letztlich gut 80 Tonnen Ertrag rein/Hektar geworden, Zuckergehalt für mich eher enttäuschend: 17,1 Prozent», schreibt er. Resistente Sorten haben niedrigere Zuckergehalte. Gut möglich also, dass die Zeit der rekordsüssen Schaffhauser Rüben vorbei ist.