Jahrelang hat Bundesrat Berset beeinträchtigte Arbeiter und Angestellte um IV-Leistungen gebracht, die ihnen zustehen. Auf Druck des Parlaments hat er seine Untätigkeit beendet und die Situation der Betroffenen verbessert. Doch die wenigsten sind zufrieden.
Andrea Tedeschi
BERN. Ein Mann ist nach einem Unfall körperlich eingeschränkt und kann nur noch leichte Hilfsarbeiten ausführen. Laut Invalidenversicherung (IV) sollte der Mann in einem geeigneten neuen Job 67 766 Franken verdienen können, nur 2 Prozent weniger als in seinem früheren Beruf als Anlageführer. Das entspricht aber nicht der Realität auf dem Arbeitsmarkt. Denn die IV stützt sich in ihrer Annahme auf zu hohe statische Löhne.
Deswegen steht Bundesrat Berset in der Kritik. Diese Woche hat der Bundesrat entschieden, dass er die zu hohen Löhne pauschal um 10 Prozent nach unten korrigiert. Im Mai hatte Berset diesen Vorschlag in die Vernehmlassung gegeben. An diesem hält er trotz Widerstand dagegen fest. Behindertenorganisationen, Gemeinden, die meisten Kantone und fast alle Parteien hatten 15 Prozent oder eine wissenschaftlich korrekte Berechnung gefordert. Die Enttäuschung ist gross. «Zwar wird der Entscheid für viele Menschen eine kleine Verbesserung bedeuten, aber nie in dem Ausmass, das erforderlich wäre. Zahlreiche Menschen werden weiterhin ungerechtfertigterweise keine Renten erhalten», sagt Anna Pestalozzi, stv. Leiterin Sozialpolitik bei der Behindertenorganisation Procap.
Diese Berechnung ist seit Jahren ein Politikum, alle Parteien kritisieren sie, von den Grünen bis zur SVP. Der Grund: Die IV errechnet aus der Differenz zwischen dem bisherigen und dem künftigen Lohn den Lohnausfall und daraus die Höhe der Leistungen. Fehlen konkrete Lohnangaben für einen Vergleich, zieht die IV statistische Löhne heran. Fachleute konnten jedoch mehrfach belegen, dass die meisten körperlich oder psychisch Beeinträchtigten auf dem Arbeitsmarkt bis zu 17 Prozent weniger verdienen als die IV annimmt. Die Folge: Beeinträchtigte gelten als arbeitsfähig, obwohl sie es nicht sind. Sie bekommen keine oder eine zu tiefe Rente und werden von der Sozialhilfe abhängig. «Der Pauschalabzug von 10 Prozent ist zu tief angesetzt», sagt Claudia Kratochvil-Hameter, stv. Direktorin des Schweizerischen Gemeindeverbands. «Die Gemeinden tragen die Hauptlast dieser unkorrekten Berechnung.»
Gegen jeden Widerstand
Auch Parlamentarier kritisieren den Entscheid. «Der Bundesrat spart weiterhin auf dem Buckel der Menschen mit Beeinträchtigungen, die auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen haben», sagt Nationalrätin Barbara Gysi (SP/SG). Sie erhält Zuspruch von bürgerlicher Seite. «Ich kann den Entscheid nicht nachvollziehen. Mindestens 15 Prozent Pauschalabzug hätten es sein müssen, aber selbst dann ist das nur die zweitbeste Lösung», sagt der Ständerat Hannes Germann (SVP/SH).
Germann und Nationalrat Christian Lohr (Die Mitte/TG) hatten in beiden Räten je eine einstimmige Mehrheit für ihre Motion erreicht, die Bundesrat Berset zwang, bis Ende dieses Jahres den Missstand zu korrigieren. Nach dem Willen des Parlaments hätte der Bundesrat eine Berechnungsgrundlage der hochkarätigen Arbeitsgruppe rund um Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht, umsetzen müssen. Die Wissenschaftlerin hatte eine Methode entwickelt, die präzise berechnen kann, was Beeinträchtigte nach einem Unfall oder einer Erkrankung noch leisten und verdienen können.
Dass die Berechnung korrigiert werden müsste, wurde auch in der Vernehmlassung zur IV-Reform vor zwei Jahren breit und laut gefordert. Trotz grossem Widerstand schrieb Berset damals die umstrittene IV-Berechnung in die Verordnung. Der Grund: Eine Korrektur würde nach Angaben des BSV mindestens 300 Millionen Franken pro Jahr mehr kosten.
Doch das Parlament hielt den Druck auf Berset hoch. Wohl deshalb brachte er das Pauschalmodell als «vorübergehende Lösung» ins Spiel, das nun ab kommendem Januar 2024 dauerhaft eingeführt wird. Diese sei praktikabler in der Umsetzung als die Methode Riemer-Kafka, hiess es. Damit konnte der Bundesrat zuletzt einzig eine Mehrheit der ständerätlichen Sozialkommission rund um den Finanzpolitiker Alex Kuprecht (SZ/SVP) überzeugen. Ständerat Germann sagt dazu: «Die Versicherten bekommen weiterhin nicht die Leistungen, für die sie Lohnbeiträge bezahlen und die ihnen zustehen. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit der IV.»
Warten auf das Bundesgericht
Behindertenorganisationen fordern bereits, dass das Parlament eine bessere Lösung erwirkt. SP-Nationalrätin Barbara Gysi sagt, die Gesundheitskommission müsse jetzt prüfen, wie es weitergehen soll, «allenfalls mit einer neuen Kommissionsmotion. Aber es dürfte politisch schwierig werden, im inzwischen konservativeren Ständerat eine Mehrheit zu finden.» Ständerat Germann glaubt dagegen, dass dies möglich sei, «wenn wir den Missstand klar mit Beispiel benennen». Zur Debatte stehen ein Pauschalabzug von 15 Prozent oder die wissenschaftliche Methode Riemer-Kafka. Gysi gibt der Methode Riemer-Kafka weiter Chancen. «Aber man spürt einen grossen Widerstand dagegen aus dem BSV.»
Tatsächlich hat das Departement die Arbeitsgruppe rund um Riemer-Kafka diese Woche aufgelöst. Für die Wissenschaftlerin ist die Sache vorerst erledigt. «Ich habe eine Methode angeboten, die den Missstand an seiner Wurzel hätte beheben können, aber der Bundesrat hat nun anders entschieden», sagt Riemer-Kafka. Dennoch bedauert sie, dass «der Bundesrat nicht gewillt ist, für die Schwächsten der Gesellschaft eine faire und nachhaltige Lösung zu schaffen».
Selbst wenn das Parlament einen höheren Pauschalabzug erwirken würde, dürfte diese Lösung ein juristisches Nachspiel haben. «Sollte eine ab 2022 Verunfallte oder ein Erkrankter bis vor Bundesgericht für eine höhere IV-Rente klagen, dürften sie wohl recht bekommen», sagte Thomas Gächter, Zürcher Rechtsprofessor für Sozialversicherungsrecht, kürzlich dieser Zeitung. Der Grund: Der Bundesrat hat den sogenannten leidensbedingten Abzug bis maximal 25 Prozent vor zwei Jahren per Verordnung abgeschafft. Gächter sagte: «Das erscheint mir gesetzeswidrig.»