[Schaffhauser Nachrichten] Stocker zog den Sieg auf dem Land an Land

Nur gerade in der Stadt und Neuhausen hat Neo-Ständerat Simon Stocker mehr Stimmen erhalten als Thomas Minder, gleichwohl wurde er gewählt. Ist das der viel beschworene Stadt-Land-Graben? Die Zahlen zeigen: Das Gegenteil ist der Fall.

Nach dem Sieg: Simon Stocker nimmt die Gratulation von Matthias Freivogel entgegen, der 2011 erfolglos für den Ständerat kandidiert hatte. Bild: Melanie Duchene

Robin Blanck |  

Nur gerade vier Minuten nachdem am vergangenen Sonntag das Ergebnis des zweiten Wahlgangs für den noch freien Sitz im Ständerat feststand, meldet sich Kantonsrat Pentti Aellig, Gemeindepräsident von Dörflingen, auf Twitter zu Wort: «Minder vom urbanen Zentrum in die Wüste gejagt», schrieb der Politiker, postuliert den «Schaffhauser Stadt-Land-Graben» und verwies darauf, dass Stocker in keiner der 24 Schaffhauser Landgemeinden mehr Stimmen als sein Gegner Thomas Minder erzielt hat. Tatsächlich hat Stocker nur in der Stadt und in Minders Heimatgemeinde Neuhausen die Nase vorn: Er überflügelt Minder in der Stadt um 3804, in Neuhausen um 282 Stimmen. Stimmt also die Einschätzung, dass Stocker der Kandidat des «urbanen Zentrums» ist? Was auf den ersten Blick überzeugend wirkt, erweist sich bei näherer Betrachtung als falsch: Analysiert man die Resultate der letzten acht Ständerats-Wahlgänge seit 2003, zeigt sich ein anderes Bild.

Die alte Welt

Im Jahr 2003 ist die politische Welt noch eine andere: Peter Briner (FDP) und Hannes Germann (SVP) werden gewählt, die Hälfte der Stimmen erhalten die beiden aus den Landgemeinden, fast überall hatte der Freisinnige Briner das höhere Resultat. Die Herausforderer Florian Keller und Christoph Lenz, beide AL, erreichten nicht einmal in der Stadt das absolute Mehr. Mit dem Aufstieg der SVP akzentuierte sich die Ausgangslage in den Landgemeinden bei den nachfolgenden Wahlen: 2007 schaffte das Duo Briner/Germann erneut ungefährdet die Wiederwahl, der Anteil der Landstimmen am Gesamtergebnis war grösser geworden, in der Stadt verloren die Platzhirsche etwas an Boden.

Zwischenfazit I (2003/2007): FDP und SVP dominieren Stadt und Land uneingeschränkt.

Im Jahr 2011 sollte die Stabübergabe von Briner an Christian Heydecker erfolgen, doch Abzockerschreck Minder startet seinen Angriff: Germann wird komfortabel wiedergewählt, 8544 Stimmen erhält er in den Gemeinden, 7981 in Neuhausen und der Stadt. Es kommt zum zweiten Wahlgang und Minder setzt sich gegen Heydecker und SP-Kandidat Matthias Freivogel durch: Der Neuhauser gewinnt in der Stadt und Neuhausen zusammen 6148 Stimmen, auf Platz 2 folgte aber nicht Heydecker, der nur 3444 Stimmen erhält, sondern SP-Mann Freivogel mit 5302 Stimmen in der Agglomeration. Auf dem Land war die Reihenfolge noch wie zuvor: Heydecker schnitt rund 1000 Stimmen besser ab als Freivogel mit 3034 Stimmen, der Name Thomas Minder wurde aber 5705 Mal auf den Stimmzettel geschrieben und damit deutlich am meisten ausserhalb der Stadt.

Zwischenfazit II (2011): Die SVP dominiert das Land jetzt klar, der Freisinn hat dort bereits an Rückhalt eingebüsst. Die SP ist auf dem Land schlicht chancenlos, überflügelt den Freisinn aber im urbanen Raum.

Das Jahr 2015 wird zum Triumph für Germann, der 20 747 Stimmen erhält – ein seither unerreichter Wert. Germann sammelt fast die Hälfte seiner Stimmen (9956) in der Stadt und Neuhausen, Minder erreicht 6635 in den beiden grössten Gemeinden. Nicht mithalten in diesem Gebiet können Reto Dubach (4271 Stimmen) und – überraschender – auch der spätere Regierungsrat Walter Vogelsanger (5020 Stimmen) – er erhält 300 Stimmen weniger als Freivogel vier Jahre zuvor. In den Landgemeinden verfestigt sich die Vorherrschaft der SVP: Nicht nur Germann, auch Minder kann dort deutlich zulegen, Dubach schneidet schlechter ab als Heydecker vier Jahre zuvor. Das gilt auch für den Begginger Walter Vogelsanger, der keine 3000 Stimmen auf dem Land schafft.

Zwischenfazit III (2015): FDP und SP werden auf dem Land zunehmend abgehängt, in der Stadt und Neuhausen gewinnt die SP an Terrain gegenüber der FDP.

Die Wahlen 2019 sollen den Wechsel bringen, auch diesmal misslingen die Angriffe von SP und FDP: Germann schwingt deutlich oben aus (total 17 333 Stimmen), die Distanz zu den Verfolgern im städtischen Gebiet schmilzt jedoch: Während Germann dort noch auf 7834 Stimmen kommt, erreicht Minder 6782, SP-Mann Patrick Portmann liegt mit 6214 auf Rang 3. Abgeschlagen am Schluss folgt Christian Amsler mit 3557 Stimmen, ein geradezu klägliches Resultat. Auf dem Land schneidet der FDP-Kandidat (2789 Stimmen) noch schlechter ab als SP-Portmann (3738 Stimmen). Portmann liegt in der Schlussrechnung über 3600 Stimmen vor Amsler.

Zwischenfazit IV (2019): Auf dem Land bleiben Germann/Minder unangefochten, der Freisinn büsst in den kleineren Gemeinden weiter an Unterstützung ein, die SP legt aber sowohl in der Stadt als auch auf dem Land zu.

Im ersten Wahlgang 2023 zeigt sich eine markante Veränderung: In Neuhausen und der Stadt macht keiner so viel Stimmen wie alt Stadtrat Simon Stocker (8449 Stimmen), auf Platz zwei verwiesen wird diesmal Germann (6814), Thomas Minder wird mit 5174 Stimmen Dritter. Auf dem Land sind Germann (8676 Stimmen) und Minder (6871 Stimmen) noch immer in Front, doch wesentlich ist, dass der Vorsprung auf Stocker dort merklich schrumpft: Stocker erreicht in den Landgemeinden mit 5007 Stimmen das weitaus beste Resultat, das ein SP-Anwärter in den beiden Jahrzehnten zuvor erzielt hat. Das kommt nicht überraschend, hatte Stocker doch von Beginn des Wahlkampfs an das Land im Fokus, markierte Präsenz, dies auch medial und versuchte, im Direktkontakt Stimmen zu gewinnen.

Das Land war entscheidend

Im zweiten Wahlgang sollte sich das noch mehr auszahlen: Neuhausen und die Stadt bescheren Stocker im zweiten Anlauf sogar 9843 Stimmen – ein Glanzresultat, das nur rund 100 Stimmen hinter dem Rekord von Germann (9956) von 2015 liegt. Minder hatte in den Wochen seit dem ersten Wahlgang genau die umgekehrte Strategie gewählt und fokussierte sich mit seinen Aktionen auf die Stadt, konkret den Fronwagplatz: Gratiswürste, Marroni und weitere Geschenke hat er dort verteilt. Gegenüber dem ersten Wahlgang verschafft er sich damit zusätzliche 600 Stimmen in der Agglomeration und baut darauf, dass die Wählerschaft auf dem Land ihm die Stimme gibt.

Doch die Rechnung geht nicht auf: Zwar schreiben die Menschen in Gemeinden Minder munter (und öfters als Stocker) auf den Wahlzettel, sodass er im zweiten Anlauf rund 7700 Stimmen für sich verbuchen kann – rund 1000 Stimmen mehr als im ersten. Doch: Auch Stocker kann sich auf dem Land nochmals steigern und schafft 5926 Stimmen – ein Spitzenwert und knapp doppelt so viel wie das Durchschnittsergebnis der SP-Kandidaten Freivogel, Vogelsanger und Portmann.

Schlussfazit: Indem Stocker den Rückstand auf dem Land auf unter 2000 Stimmen beschränken konnte und in der Stadt nochmals zulegte, konnte er den Sitz gewinnen. Hätte er auf dem Land so abgeschnitten, wie die früheren SP-Kandidaten, hätte er trotz Mobilisierung in der Stadt die Wahl um 500 Stimmen verpasst. Sprich: Stocker hat seinen Sieg massgeblich auf dem Land eingefahren – und der Graben zwischen Stadt und Land war bei seiner Wahl deutlich kleiner als in früheren Jahren