Schaffhauser Nachrichten: «In diesem ethischen Konflikt stecken alle»

Stammzellenforschung: Hannes Germann hört den Argumenten von Pia Hollenstein zu und kontert sie dann. [Bild: Max Baumann]
Stammzellenforschung: Hannes Germann hört den Argumenten von Pia Hollenstein zu und kontert sie dann. [Bild: Max Baumann]
Interview: Hans Wicki

Schaffhauser Nachrichten: Pia Hollenstein, Sie sind Berufsschullehrerin im Fach Gesundheit. Behandeln Sie auch den Bereich medizinische Forschung?
Pia Hollenstein: Medizinische Forschung nicht, denn ich lehre im Pflegebereich. Bei uns geht es sehr oft um ethische Themen. Wo sind Grenzen, was ist erlaubt, was ist verantwortbar?
Welche ethischen Themen werden dann besprochen?
Hollenstein: Zum Beispiel Sterbehilfe. Dabei bleiben wir jeweils nur kurz beim Rechtlichen. Es geht dann vielmehr um Fragen wie: Was heisst das für die Pflegenden, was für die Kranken? Oder Palliativpflege.
Hannes Germann, Stammzellenforschung liegt Ihnen nicht gerade am nächsten. Was fasziniert Sie?
Hannes Germann: Faszinierend ist sicher, was der Mensch durch seine Forschung im Bereich Medizin an Fortschritt zu Stande gebracht hat. Indem er als unheilbar geltende Krankheiten zu bekämpfen verstand. Und das dürfte stetiger Anreiz sein, die sich abzeichnenden Chancen im Kampf gegen Diabetes, Alzheimer und Parkinson oder zur Heilung von Querschnittlähmungen zu nutzen.
Frau Hollenstein, wie weit können Sie der Stammzellenforschung etwas abgewinnen?
Hollenstein: Wenn man von Stammzellenforschung spricht, muss man klar unterscheiden. Da ist zum einen die Forschung an adulten Stammzellen, die vom Menschen selber stammen; und hier hat man schon gute Erfolge erzielt. Die Forschung an adulten Stammzellen ist ethisch unbedenklich. Darum müssen wir bei der Forschung an adulten Stammzellen weitermachen. Zum andern gibt es die Forschung an embryonalen Stammzellen; die lehne ich ab.
In der Schweiz wird jetzt aber an embryonalen Stammzellen geforscht, und das weckt Hoffnungen, beispielsweise dass Alzheimer- oder Parkinson-Patienten Heilung finden könnten. Darf man diese Hoffnung zerstören?
Hollenstein: Es geht nicht darum, ob man Heilversprechen macht, die in sehr weiter Ferne eingelöst werden könnten und von denen sich selbst Forschende keinen Erfolg versprechen. Es geht hier vielmehr um die Abwägung ethischer Grenzen. Und die embryonale Stammzellenforschung ist ein eigentlicher Tabubruch, bei dem es darum geht, menschliches Leben zu instrumentalisieren. Dieser Dammbruch führt zu neuen Begehrlichkeiten. Embryonen werden zur eigentlichen Massenware. Klar ist auch die Option der Entwicklung menschlicher Keimzellen. Und das lehne ich ab. Werdendes menschliches Leben wird verdinglicht. Und absehbar ist, dass der nächste Schritt das Klonen sein wird. Wenn wir diese Entwicklung stoppen wollen, müssen wir Nein sagen zum Embryonenforschungesetz.
Germann: Ums Klonen geht es hier nicht, dafür bräuchte man keine embryonalen Stammzellen. Es geht darum, überzählige Embryonen, die es bei der In-vitro-Fertilisation gibt, im Sinne der «Eltern» – und unter strengen Vorgaben – zum Wohle anderer Menschen zu Forschungszwecken verwenden zu dürfen, statt einfach sinnlos absterben zu lassen. Das ist der ethische Konflikt, in dem wir alle stecken. Ich habe es mir nicht leicht gemacht. Nach reiflicher Güterabwägung bin ich zum Schluss gekommen: Ja, das ist richtig. Die Auflagen des Gesetzgebers sind so hoch, dass Missbrauch praktisch auszuschliessen ist. Ohne eigene Forschung wären wir auf Forschungserfolge aus dem Ausland angewiesen. Mit dieser Doppelmoral habe ich ebenso grosse Mühe wie mit jenen, die für die freie Abtreibung plädierten und jetzt die ethische Frage dermassen hochspielen. Bei der ethischen Frage könnte man dann aber schon zurückgreifen auf die Organspende, wo ein Mensch mit Spenderausweis nach einem tödlichen Unfall buchstäblich «ausgeschlachtet» werden darf, da er ja nicht mehr zu retten war. Selber kann er damit jedoch andere Menschenleben retten. Diese Güterabwägung hat dieser Mensch in einem früheren Stadium vorgenommen. Das gilt es genauso zu respektieren wie den Entscheid der Eltern, ihren überzähligen Embryo zum Wohle anderer Menschen für Forschungszwecke freizugeben.
Hollenstein: Ich finde es wichtig, die Entnahme von embryonalen Stammzellen nicht mit einer normalen Organ-spende zu vergleichen. Denn hier werden erstmals menschliche Zellen zweckentfremdet. Zielbestimmung des Embryos ist es, Mensch zu werden, auch wenn er zu dieser Zeit noch kein Mensch ist. Doch hier geht es nun erstmals um eine Instrumentalisierung menschlichen Lebens.
Germann: Das wäre es nach Ihrer Auslegung auch mit adulten Stammzellen. Nur sind embryonale Stammzellen eben für bestimmte Zwecke besser geeignet als adulte. Für ein zuckerkrankes Kind oder jemanden, der an den Rollstuhl gefesselt ist, bedeutet jeder Fortschritt neue Hoffnung. Da geht es nicht primär um wirtschaftlichen Gewinn, sondern um einen Gewinn an Lebensqualität.
Hollenstein: Mehrfach ist schon versprochen worden, man gehe nicht weiter. Zum Beispiel, als man die In-vitro-Fertilisation zuliess, hiess es, man werde nie überzählige Embryonen haben. Und jetzt? Wir haben überzählige Embryonen in den Kühlfächern, wir haben die Forschungsmöglichkeit, und wir haben bereits eine Frau, die in der Schweiz forscht. Zurück zu den Rahmenbedingungen: Es ist schwierig, sie zu kontrollieren. Es heisst zwar im Gesetz, die Forschung werde vom Bundesrat periodisch kontrolliert. Doch Sie wissen selbst: Was möglich ist, wird gemacht. Forscher werden ihr Wissen also auch in Richtung Klonen nutzen. Sind Sie denn nicht gegen diesen Schritt?
Germann: Klonen ist nicht erstrebenswert, denn ich sehe hier keinen Gewinn für die Menschheit. Dafür braucht es keine embryonalen Stammzellen. Das Schaf Dolly nämlich wurde geschaffen, indem Forscher Zellen kopierten; das hat nichts mit embryonaler Stammzellenforschung zu tun. Ich schliesse allerdings nicht aus, dass früher oder später der Versuch gewagt wird, einen Menschen zu klonen. Das Horrorgespenst eines geklonten Menschen führt jedoch vom Thema weg. Wir haben einen strengen Rahmen, innerhalb dessen sich die Stammzellenforschung bewegen kann …
Hollenstein: … der sich gar nicht kontrollieren lässt …
Germann: … das ist eine pure Behauptung. Es ist eine Frage des Willens. Kontrollen, nicht Forschungsverbote sind die Lösung. Verbote haben zur Folge, dass an einem anderen Standort die gleiche Forschung gemacht wird. Dann aber kommen so entwickelte Medikamente auf Umwegen in die Schweiz – und wir haben keine Einflussmöglichkeit. In der Schweiz hingegen erhalten und stärken wir nicht nur den eigenen Forschungsstandort. Hier legen wir den ethisch verantwortbaren Umgang mit embryonalen Stammzellen fest und haben die Kontrolle in unserer Hand.
Hollenstein: Aber stellen Sie sich vor, eine periodische Kontrolle des Bundesamtes für Gesundheit; das kann man kaum als Kontrolle bezeichnen.
Wir haben in der Schweiz 20 Gruppen: 19 forschen im Bereich adulte und eine im Bereich embryonale Stammzellen. Es werden sich kaum Hunderte von Gruppen auf die embryonale Stammzellenforschung stürzen. Diese Forschung können sich nur wenige Gruppen leisten. Glauben Sie, das ist nicht zu kontrollieren?
Hollenstein: Man hat nicht verhindern können, dass es überzählige Embryonen gibt, obwohl dies eigentlich verboten wäre, und man weiss, in welchen Spitälern sie entstehen. Es könnte sich zudem herausstellen, dass die embryonale Stammzellenforschung auch nicht die erhofften Ergebnisse bringt. Was vielleicht Erfolg versprechend bleibt, ist das therapeutische Klonen. Das wird der nächste Schritt sein.
Germann: Darum geht es hier nicht, und das ist ohnehin nicht erlaubt.
Hollenstein: Ja was heisst erlaubt? Man hat die Möglichkeit, also will man es auch tun. Dieselbe Argumentationsabfolge gab es schon einmal.
Germann: Wenn wir alles verbieten würden, gäbe es keinen Fortschritt. Es ist daher eine Güterabwägung, ob man diesen Schritt machen will. Und wenn ja, dann im eigenen Land, wo sich der Fortschritt auch kontrollieren lässt. Ziel muss sein, die Biologie des Menschen besser zu verstehen. Aber nochmals, die Voraussetzungen für die Forschung sind restriktiv – das Paar muss einverstanden sein, das Projekt muss von hoher wissenschaftlicher Qualität sein, und es wird von einer Ethikkommission beurteilt. Im Ausland hingegen haben wir nichts zu den Bedingungen zu sagen, unter denen Forschung betrieben wird. Auf dem Weltmarkt ist zudem ein Handel mit embryonalen Stammzellen möglich. Wenn ich das Ganze pragmatisch anschaue, heisst das: Wenn die Schweiz diesen Forschungsbereich verbietet, dann wird unsere forschende Industrie, notabene ein wichtiger Bestandteil des Innovationsstandorts Schweiz, massiv beschnitten. Die Forschung hingegen wird auf Orte ausweichen, an denen sie gute Rahmenbedingungen erhält. Dabei ist diese Art von Forschung auch für die Pharmaindustrie in der Schweiz enorm wichtig.
Hollenstein: Ich bin nicht forschungsfeindlich. Aber wenn Sie überlegen, bei welchen Bereichen wir im Parlament schon gesagt haben, bei einem Nein gehe der Forschungsplatz Schweiz kaputt, dann handelt es sich hier um einen sehr kleinen Bereich. Wenn wir dagegen die Forschung an adulten Stammzellen zulassen, an anderen dafür nicht, dann haben Forscher, die hier bereits sehr gute Projekte vorbereiten, eine Chance voranzukommen. Es macht ethisch verwerfliches Handeln nicht besser, wenn es im Ausland geschieht.
Wollen Sie der Ethikkommission unterstellen, dass sie ethisch Verwerfliches zulässt?
Hollenstein: Die Ethikkommission besteht auch aus Menschen, und sie muss, wenn wir das Gesetz zulassen, gesetzeskonform handeln. Und für mich ist ja schon das Gesetz ethisch nicht vertretbar. Geforscht wird nicht an den Embryonen. Diesen werden lediglich Stammzellen entnommen.
Hollenstein: Aber diese sind ein Teil des Embryos.
Germann:Nun versprechen jedoch embryonale Stammzellen aus Forschersicht mehr. Es ist also absehbar, dass in der Forschung jene die Nase vorn haben, die mit embryonalen Stammzellen forschen. Ein Blick nach Deutschland genügt doch. Dort gab es auch eine starke Pharmaindustrie. Ihre Möglichkeiten wurden jedoch durch rigorose Verbote beschnitten. Nun müssen wichtige Medikamente importiert werden. Mit dieser Form von Ethik habe ich Mühe. Nun können wir selbst sagen, die Schweiz leistet ihren Beitrag an die Entwicklung, oder wir besorgen uns mit unserem Geld die Medikamente anderswo. Nur damit behält man saubere Hände – dies ist eine Doppelmoral, die mir grösste Mühe bereitet.

Im Streitgespräch debattieren die St. Galler Nationalrätin Pia Hollenstein (Grüne) und der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann (SVP) über das Stammzellenforschungs-Gesetz. Für Hollenstein verkommen bei einer Zustimmung die Embryos zur Massenware. Der Gesetzgeber hat gemäss Germann den Rahmen für die Forscher eng gesteckt und trägt so der ethischen Frage Rechnung.